Backstage mit Katja Grawinkel-Claassen (FFT Düsseldorf) und Lucie Ortmann (tanzhaus nrw Düsseldorf)
Welchen Themenschwerpunkt legt „TikTok – Virales Theater“?
Katja Grawinkel-Claassen: Bei uns steht der Austausch über TikTok zwischen den Generationen im Mittelpunkt. Am FFT und am tanzhaus nrw gehen viele Jugendliche ein und aus. Sei es in Kursen und Workshops, als Performer*innen auf der Bühne oder als junges Publikum. Für die Jüngeren spielt TikTok eine riesige Rolle in ihrem Alltag, für Kunst, Kultur und Politik. Hier findet alles statt. Wir Älteren kommen da oft nicht mit. Daher wollten wir ein Wochenende der Verständigung anbieten und haben dazu Künstler*innen, Content-Creator*innen, Jüngere und Ältere eingeladen.
Lucie Ortmann: TikTok wird medial häufig sehr reißerisch thematisiert, negative Potenziale wie der Erfolg von rechten Agitator*innen hervorgehoben. Auf TikTok findet allerdings genauso Wissenstransfer und Aufklärung statt, Vernetzung und Empowerment. Das onlinetheater.live deckt Prozesse rund um die Radikalisierung junger Männer auf TikTok auf, teilt aber auch konkrete Vorschläge, wie sie möglichst früh zu unterbrechen sind. In einem Workshop werden wirksame Strategien vermittelt, die alle einfach umsetzen können. Mit Künstler*innen wie senzenberger|rieck und Brig Huezo thematisieren wir neue Vorstellungen von Körper, Genderperformance und Tanz. In ihren Arbeiten geht es auch darum, Körper lustvoll zu zeigen und zu zelebrieren. Selbstbestimmtheit, Selbstbewusstsein und Strategien, sich vor Hate und Abwertung zu schützen, bilden wichtige Themenfelder.
Was macht TikTok performativer als andere soziale Medien?
Lucie Ortmann: Die kurzen Videos auf TikTok sind ja sozusagen Performances für den Screen. Creator*innen denken hier genuin dramaturgisch, es werden Abläufe in der Zeit gestaltet, Spannung erzeugt. Zusätzlich bringt die App auch ganz neue Formen von Performativität hervor. Immer häufiger sehen wir Personen, die im öffentlichen Raum Choreografien für TikTok aufnehmen. Da tanzen dann auf einmal mehrere Personen auf einem Bahnsteig, in einer Bibliothek oder auf dem Schulhof. Sie tanzen und werden dabei auch gesehen, aber sie tanzen nicht für die Menschen im physischen Raum, sondern für ihre Onlinecommunity.
Katja Grawinkel-Claassen: Inszenierung und Selbstinszenierung findet auf allen Sozialen Medien statt. Sie fungieren als Bühnen, nur dass jede*r einzelne im Publikum ebenfalls performt. Martina Leeker, eine Medienwissenschaftlerin, die an unserem Programm teilnimmt, spricht von TikTok als neuem „Welttheater“. Es findet ein riesiger Wettkampf um Aufmerksamkeit statt, der vom Algorithmus entscheidend mitgestaltet wird.
Wo finden sich Schnittstellen zwischen TikTok und der Theaterbühne?
Katja Grawinkel-Claassen: Unser jüngeres Publikum und auch eine jüngere Generation von Theatermacher*innen – ich meine damit Menschen bis Anfang 30 – ist ganz selbstverständlich im Theater und auf TikTok zu Hause. TikTok bedient sich andersherum an Techniken, die älter sind als das Medium, um Bilder und Räume zu gestalten, Aufmerksamkeit zu binden und Gemeinschaft herzustellen.
Lucie Ortmann: Die meisten Menschen sind heutzutage ja fast ständig online. In einigen Aufführungen ist es heute von Seiten der Künstler*innen erlaubt – sogar erwünscht – dass Zuschauer*innen Fotos und Videos machen und sie onlinestellen. Diese Künstler*innen haben ein anderes Verhältnis zum flüchtigen Live-Erlebnis einer Aufführung, was ja sonst in der Kunst oft mit viel Bedeutung aufgeladen wird. Manche Bühnenstücke bespielen so schon vor und auch nach der Premiere Soziale Medien und werden von Menschen wahrgenommen, die die Aufführung vielleicht nie auf einer Theaterbühne erleben werden. Eine weitere Schnittstelle sind sicherlich die Orte, an denen Tanz als künstlerische Praxis heutzutage erscheint. Wenn Sie überlegen, wo Tanz heutzutage stattfindet, kann man sicher sagen, dass mehr Tanz online auf TikTok zu erleben ist, als im Theater.
Wie finden in Ihren Augen Online-Communities und Theaterpublikum zusammen? Und was sind die Unterschiede, die es zu überwinden gibt?
Katja Grawinkel-Claassen: Die zwei Stücke, die wir im Rahmen unseres Programms zeigen, machen das deutlich: Sowohl onlinetheater.live als auch senzenberger|rieck bringen Themen, Bilder, Tänze und Diskurse aus beiden Welten zusammen. Sie arbeiten dabei aber ganz unterschiedlich. In „a dance routine“ finden Tänze, Bewegungen, Gesten durch zwei Tänzer*innen auf der Bühne aus der digitalen Welt ihren Weg in einen physischen Raum. onlinetheater.live haben mit den Mitteln des Theaters zunächst TikTok bespielt und berichten nun einem Theaterpublikum von ihren Erkundungen in männlich dominierten Filterblasen, wo Radikalisierungsprozesse stattfinden. Die Frage war: Ist es möglich, dort mit künstlerischen Strategien einzugreifen und Gegenvorschläge zu machen?
Lucie Ortmann: Mit TikTok werden Tanz und Tanzen als eigene Praxis bei Jugendlichen zum Beispiel beliebter. Und diese Generation tanzt erstmal nicht im Tanzkurs in einem Studio, sondern vor der Handykamera, in Online-Tutorials und für Online-Communities. Aber nicht nur das Interesse ist geweckt, es entwickeln sich auf TikTok ein großes Wissen über Tanz und virtuose Tanztechniken. Solche und weitere neue Expert*innen in unseren Feldern nehmen wir an unseren Häusern und mit unserer Veranstaltung ernst. Jugendliche aus Düsseldorf entwickeln am FFT gerade ein Welcome-Format für den Eröffnungstag, innerhalb dessen sie mit Gäst*innen über ihre eigene Praxis und ihre Perspektiven auf TikTok ins Gespräch kommen werden.
In welcher Weise beeinflussen TikTok-Trends unser aktuelles Kunstverständnis? Zeigt sich das in der Art und Weise, wie Performances überdacht werden?
Katja Grawinkel-Claassen: Wie TikTok das Theater beeinflusst, hängt davon ab, was das Theater zulässt. Hier geht es auch um eine Frage von Entscheidungsmacht. Social Media gehört für viele Menschen zur Lebensrealität, hier findet alles statt, was zum Leben dazugehört. Wäre es nicht toll, wenn das Theater auch so ein Ort wäre? Aber das Theater grenzt sich davon noch viel zu häufig künstlich ab. Wir finden: Wenn wir als öffentliche Orte des Austauschs und der Demokratisierung fungieren wollen, müssen wir diese digitalen Begegnungsformen ernst nehmen und von ihnen lernen. Am FFT machen wir das schon seit über 10 Jahren in einem Themenschwerpunkt, den wir als „Theater der Digital Natives“ begonnen haben und der inzwischen vor allem durch die Arbeiten jüngerer Künstler*innen das Programm an vielen Stellen prägt.
Lucie Ortmann: Weil TikTok zur zeitgenössischen Lebensrealität gehört, finden mit der Plattform verbundene Phänomene, virale Trends, verstärkt Eingang in künstlerische Arbeiten wie anderes Referenzmaterial auch. Mit TikTok werden Fragen nach Nachahmung oder Imitation und Konzepte der Autor*innenschaft und des Teilens von Kreativität neu und anders relevant. Wir beobachten am tanzhaus nrw, dass Künstler*innen sich zurzeit mit kommerziellen Tänzen und Internettänzen beschäftigen. Das ist hochspannend. Und es gibt Künstler*innen, die digitale Arbeiten entwickeln. Das tanzhaus nrw richtet zurzeit ein internationales Residenzprogramm für Digital Dance Creators aus, für Tanzkünstler*innen, die ausschließlich oder vorrangig für digitale Räume choreografieren.
Wie kann auf das Gefahrenpotential von TikTok im nicht-digitalen Raum aufmerksam gemacht werden? Oder ist dieser Diskurs an medienbezogenen Content gebunden?
Katja Grawinkel-Claassen: Wenn Theater ein Ort der Begegnung und des Austauschs ist, wo Dinge ausprobiert werden können, dann ist es der perfekte Ort, um auch kritisch über TikTok zu reflektieren. Was für uns nicht funktioniert ist, diese Kritik von einem Standpunkt der Ignoranz gegenüber TikTok zu formulieren. Wir müssen uns mit der Plattform, ihrem Reiz und ihrem Potential ernsthaft beschäftigen. Dann qualifizieren wir uns auch als Gesprächspartner*innen in kritischer Hinsicht. Und dann hat das Theater eben seine ganz eigenen Mittel, Gemeinschaft und Empathie herzustellen und sich auch gegen bestimmte toxische Tendenzen der Online-Welt zu positionieren.
Lucie Ortmann: Wir haben ja bereits über die Arbeit von onlinetheater.live und ihr Projekt „Myke – Hacking the Manosphere“ gesprochen, eine Koproduktion des FFT Düsseldorf, die im Rahmen der Eröffnung von „TikTok – Virales Theater“ präsentiert wird. Kommen Sie vorbei und schauen Sie es sich als ein gelungenes Beispiel dafür an, wie TikTok im Theaterraum kritisch befragt werden kann.
Das Interview führten Katja Grawinkel-Claassen, Dramaturg*in am FFT Düsseldorf, und Lucie Ortmann, Dramaturg*in am tanzhaus nrw mit dem Autoren Leó Solleder der Rheinischen Post.