COC 5/6
The Choreography of Care
The Choreography of Care (5/6)
Fevered Sleep
Unsere Einladung, wie und wann der Text zu lesen ist:
Lies diesen Text in der Gesellschaft von jemandem, der/ die nicht menschlich ist. Ein Hund, ein Grashalm, eine Handvoll Erde, ein Stein, im Regen, neben einem Baum.
Sie hebt den gefalteten grauen Pulli hoch, auf dem vorne „Grief = Love“ steht. Sie reibt die Oberfläche zwischen ihren Fingern, spürt die Beschaffenheit an ihrer Haut. Sie hält ihn an ihren Körper, probiert die Größe aus, fühlt sein Gewicht beim Tragen.
Am Ende der Improvisation dreht sie sich von der Kamera weg, verweigert es, weiter gesehen zu werden. Der ganze Verlust liegt offen. Überwältigt. Wartend geben sie der Elektrizität die Zeit, die sie braucht, um zu verfliegen.
Er erreicht den Eingang, plötzlich ängstlich wegen all der Gefühle, von denen er weiß, dass sie kommen werden, sobald er eintritt. Die Handlung einer mitfühlenden Berührung, so zärtlich und sanft, bringt ihn um die Fassung.
Zusammen stehen sie in einem kleinen, geschlossenen Raum und blicken zu Boden. Er sitzt, etwas entfernt, auf der Erde und versucht, die Eigenheiten von Erde und Stroh, Himmel und Licht, Raum, in sich aufzunehmen. Er schließt seine Augen und beginnt zu singen. Sie erheben ihre feuchten Kuhaugen, kurzzeitig abgelenkt von der Langeweile dieses Ortes, den sie Zuhause nennen müssen. Gibt es einen Namen für diese Gemeinschaft?
Ihr Atem hängt in der Luft, als sie beide ausatmen. Er hat seinen Körper tiefer als ihren positioniert, er liegt dort eingerollt von ihr weg, konzentriert auf die Stille. Er lauscht ihr beim Atmen, allmählich ändert er das Auf und Ab seiner Brust, um sich dem ihren anzugleichen.
Julia Watts Belser
Crip Shabbat // Heilige Ruhe
Wie ruhst du?
Wie holst du dir Zeit zurück?
Wie stellst du dich auf die Kadenz des Atems ein?
Mir selbst überlassen,
äße ich mein Leben auf mit Arbeit und Kopfzerbrechen.
Die Einhaltung des Shabbat ist mein Gegenmittel
zum Gift des Ableismus und zur Produktivität,
zum Leistungsfetisch.
Sechs Tage, so flüstert es die jüdische Geschichte:
Sechs Tage für die Arbeit und die Mühe
Und der siebte dann zum Genießen.
Freitagnacht, im Schein der Kerzen
wandle ich die Welt zu Schatten und Gold
Ich singe den Segen und erinnere mich:
Sogar G*tt kennt den Rhythmus des Ruhens.
Schabbes ist Cripzeit
Bett-Tage sind heilig.
Ruhe stellt die Seele wieder her.
Ich bin nicht meine Arbeit.
Meine Arbeit ist nicht mein Wert.
Um die normale Zeit abzuwickeln,
flechte ich dicke Zöpfe Challateig,
das Brot, mit dem ich den Schabbat hereinbitte.
Es beginnt mit Wasser, Zucker, Hefe.
Es beginnt mit Wärme und Warten.
Hefe ist ein lebendiges Wesen.
Du musst es schlemmen lassen.
In den halbflüssigen Brei
gibst du Öl, das Salz,
dann schlägst du die Eier auf.
Klopf‘ die zerbrechliche Schale gegen den Tresen,
schütte das Eigelb, das glitzernde Weiß.
Solltest du für meinen Vater backen,
behalte ein wenig Ei zurück;
du streichst es auf die Laibe vor dem Backen
um sie glänzen zu lassen.
Aber ich falle ab.
Ich entwirre mich von der Glasur des Lebens,
der Hübschheit.
Ich neige mich grundlegenden Dingen zu,
dicken Laiben, strukturiert
von meiner Hand –
das Aufgehen
das Warten
die Wärme
der Geschmack.
Sam Butler und David Harradine (Fevered Sleep)
Sam Butler und David Harradine sind die gemeinsamen Gründer und künstlerischen Leiter bei Fevered Sleep. Sie arbeiten über die Grenzen von Kunstformen hinweg – mit Theater, Tanz, Film, Installation, Veröffentlichungen und Digitaler Kunst – und errichten Räume, in denen Menschen transformative kreative Erlebnisse erfahren, mitgestalten und an ihnen direkt teilnehmen können. Ihre Arbeit ist inklusiv, gemeinschaftlich und angetrieben von ihrer Recherche. Sie unternehmen den Versuch, die Welt zu einem mitfühlenderen, neugierigeren und teilnahmsvolleren Ort zu machen – mit einem unwahrscheinlichen Kunstprojekt nach dem anderen.
Julia Watts Belser
Julia Watts Belser ist Rabbinerin, Wissenschaftlerin, Aktivistin und spirituelle Lehrerin. Sie ist Professorin für Judaistik an der Georgetown-Universität und Mitglied der Kernfakultät des Disability Studies-Programms (Studien zu und über Behinderung) an der Georgetown-Universität, in dem sie jüdische Texte in den Dialog mit queeren und feministischen Ethiken und solchen aus der Behindertenbewegung führt. Derzeit leitet sie ein Projekt zu Behinderung, Klimawandel und Umweltgerechtigkeit – und sollte sie einmal nicht lehren oder schreiben, ist sie eine leidenschaftliche Rollstuhlwanderin.