Queering Volkstanz

Ein Podiumsgespräch über gemeinsames Tanzen an öffentlichen Orten

Im Rahmen der Programmreihe Dancing in Public teilten Clara Reiner, René Alejandro Huari Mateus, Jacob Bussmann und Frédéric De Carlo in verschiedenen Ausgaben ihres Projekts local dancing (Juni 2024) eigens erfundene Kreistänze mit ihren Gäst*innen. Die Tänze gaben Anlass, in nicht-binären und unpaarigen Konstellationen zusammenzukommen und sich von der Routine einer zirkulären Choreografie halten zu lassen. Zwoisy Mears-Clarke schlug mit Erste Schritte zu den Schwellen (September 2024) einen neuen Volkstanz vor und brachte diesen in den öffentlichen Raum Düsseldorfs, auf die Jägerhofallee im Hofgarten. Die Choreografie beruht auf Recherchen zu zwei Maskentraditionen und inszeniert eine Prozession maskierter Figuren, die sich rhythmisch bewegen, Geschichten in mehreren Sprachen singen, und ihre Gesten laut beschreiben. Dieser Tanz lädt Performer*innen und Publikum ein, sich gemeinsam auf den Weg zu Schwellen zu machen, hinter denen andere Formen des Zusammenlebens und der Weltgestaltung denkbar werden.

Im Gespräch mit Sascha Förster, Leiter des TMD Theatermuseums Hofgartenhaus Düsseldorf, diskutieren Künstler*innen beider Projekte ihre Methoden und Praxen zwischen der Einschreibung in und der Erfindung von Traditionen. Warum braucht es (neue) Volkstänze? Wozu fühlen wir uns tanzend zugehörig? Wer nimmt sich die Plätze der Stadt, tanzt und feiert im urbanen Raum?

Eine weitere Perspektive bringt die Tanzwissenschaftlerin Sevi Bayraktar (ZZT Köln) in die Gesprächsrunde ein. Ihre Forschung konzentriert sich auf den Einsatz von Volkstanz bei zeitgenössischen Protesten in der Türkei. Aktivist*innen setzen Volkstanz hier strategisch ein, um friedlich und körperlich verbunden für eine freie, pluralistische Nutzung öffentlicher Räume und Versammlungsmöglichkeiten zu kämpfen, die durch zunehmenden konservativen Autoritarismus und Polizeigewalt bedroht sind.

Hier kommt ihr zum Interview mit Clara Reiner und René Alejandro Huari Mateus von local dancing sowie Omar Mohamad und Mohamad Tamem vom Bülbül Club. Die beiden Formate am tanzhaus nrw widmen sich auf unterschiedliche Weise Kreistänzen und bilden jeweils – zum Vergnügen – spezifische Räume der Gemeinschaft und des Teilens von Tanz.

Diese Podiumsdiskussion wurde am 5. Oktober 2024 via Zoom aufgezeichnet. Ein separates Gespräch mit Fabian Lilian Korner fand am 8. November 2024, ebenfalls via Zoom, statt.

In englischer und deutscher Sprache, mit englischen Untertiteln.

Im Rahmen der Programmreihe Dancing in Public des tanzhaus nrw (2023/2024), gefördert durch die Kunststiftung NRW, und in Kooperation mit dem TMD Theatermuseum Hofgartenhaus Düsseldorf.

Speaker*innen

Sevi Bayraktar promovierte in Tanzwissenschaft an der UCLA und ist derzeit Professorin für Tanz, Musik und Performance in globalen Kontexten am Zentrum für Zeitgenössischen Tanz der Hochschule für Musik und Tanz Köln. In ihrer Forschung verbindet sie Tanz- und Performancestudien mit Soziologie und politischer Theorie, wobei sie choreografische und ethnografische Methoden anwendet. Sie ist Mitherausgeberin von Tanzen Teilen/ Sharing Dancing (Jahrbuch TanzForschung 2021). Ihre Forschungsarbeit über den Einsatz von Volkstänzen bei Protesten in der Türkei Dissenting through Dance: Folk dance, Gender and Political Protest in Turkey ist als Buch in Vorbereitung.  

René Alejandro Huari Mateus interessiert sich in ihrer choreografischen Arbeit für Praktiken, Arbeitsweisen und Darstellungsmöglichkeiten, die jede Reproduktion von Gewaltstrukturen ablehnen, auch wenn es darum geht, diese zu kritisieren. Die die Institutionen prägenden Überschneidungen der Formen von Diskriminierung, in denen Choreografie, Tanz und Performance in Deutschland entwickelt und gezeigt werden, und die hinter Inklusionsprogrammen versteckt werden, ohne etwas Wesentliches zu verändern, haben Renés Identität und ihren Ansatz fürnstlerisches Schaffen geprägt.

Fabian Lilian Korner interessiert sich für die Transformation von Wahrnehmungs- in Wissensformen, um sich explizit dem Tastsinn zu widmen. In der Kunst- und Kulturvermittlung mit inklusivem Schwerpunkt arbeitet Fabian Lilian Korner die mehrdimensionale Sinnlichkeit von Alltags- und Kunstobjekten heraus. Das Hinterfragen der alltäglich-allmächtigen Anwesenheit des Sehens hat zu verschiedenen Projekten geführt. Daneben arbeitet Fabian Lilian Korner am Mousonturm Frankfurt als Dramaturg*in, entwickelt kreative und integrierte Audiodeskriptionen und beteiligt sich am Aufbau eines Kompetenzzentrums für Audiodeskription im Tanz.

Zwoisy Mears-Clarke versteht sich als Choreograf*in der Begegnung. Zwoisy nutzt das Potenzial des Tanzes, der Audiobeschreibung, der Poesie und des Geschichtenerzählens, um Formen der Unterdrückung wie (Neo-)Kolonialismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit und Ableismus sichtbar zu machen und um Begegnungen zu ermöglichen, die unter anderen Umständen unmöglich wären. Seit Beginn von Zwoisys Karriere entwickelt Zwoisy mit einem intersektionalen Ansatz Tanzstücke für ein Publikum von sehbehinderten, blinden und sehenden Menschen. Zwoisy ko-leitet zusammen mit Fia/Sophia Neises das Labor für kreative Audiodeskription am tanzhaus nrw.

Clara Reiner performt, choreografiert, baut Objekte für die Bühne und lebt in Offenbach am Main. Sie studierte Choreografie und Performance am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen sowie Skulptur an der Koninklijke Academie voor Schone Kunsten (KASK) in Ghent (Belgien).

Moderation

Sascha Förster arbeitet seit 2021 als Institutsleiter des TMD Theatermuseums Hofgartenhaus Düsseldorf (Theatermuseum & Dumont-Lindemann-Archiv der Landeshauptstadt Düsseldorf). Darüber hinaus ist Sascha Förster Sprecher des Rats der Künste Düsseldorf, Vorstand beim Frauenkulturbüro NRW e.V. und Mitglied des Theaterbeirats der Stadt Köln. An der Universität zu Köln wurde er mit der Arbeit Zeitgeist und die Szenen der Imagination promoviert. Forschungsschwerpunkte sind: Theater- und Medienkultur der Weimarer Republik, Bühnenräume der Moderne, Theaterarchitektur, Fundus und Theaterarbeit.

Redaktion

Lucie Ortmann arbeitet seit 2022 als Dramaturgin am tanzhaus nrw, Düsseldorf. Sie war u.a. für die Ruhrtriennale tätig und Teil der künstlerischen Leitungsteams des Schauspielhaus Wien und des Theater Oberhausen. Außerdem arbeitet sie als freie Dramaturgin und Vermittlerin sowie in Forschung & Lehre. Sie ist Redaktionsmitglied des Online-Journals MAP – Media | Archive | Performance.