Backstage mit Saïdo Lehlouh

Portrait von Saido Lehlouh

Philipp Schaus: Hallo Saïdo! Témoin ist ein Stück, in dem 20 Tänzer*innen auf der Bühne stehen. Das Stück tourt mit zwei Teams, die als Team Fire und Team Water bezeichnet werden. Könntest du die Eigenschaften der beiden Teams näher erläutern und wie sie sich zusammengefunden haben? Außerdem: Welches Team wird in Düsseldorf auftreten?

Saïdo Lehlouh: Interessanterweise stimmt die Dynamik der Teams nicht unbedingt mit den Eigenschaften überein, die den Elementen zugeschrieben werden, nach denen wir sie benannt haben. Beide Teams weisen eine breite Spanne an Energien und Qualitäten auf, wobei einige Tänzer*innen in ihrem Style eher geerdet (im Sinne von grounded) sind und andere eher schwebend (im Sinne von floating). Die Gruppe besteht aus einer Vielfalt an Persönlichkeiten und Eigenschaften. Jede Aufführung ist einzigartig, da die Energie der Tänzer*innen sowohl innerhalb als auch zwischen den Teams variiert. Im Team Fire gibt es tendenziell mehr Breaker*innen und Tänzer*innen, mit denen ich in der Vergangenheit eng zusammengearbeitet habe, z. B. in Projekten wie Apaches und Wildcat. Es gibt ein starkes Gefühl der Verbundenheit und eine gemeinsame Geschichte zwischen ihnen, erwachsen aus Battles und geteilten Erfahrungen. Auf der anderen Seite setzt sich Team Water aus Tänzer*innen mit verschiedenen Hintergründen zusammen, die von Electro über Krump bis hin zu Interessen in den Bereichen Theater, Film oder Literatur reichen. Trotz dieser Vielfalt, ihres persönlichen Bewegungsvokabulars und ihrer Lebenserfahrungen teilen sie eine zusammenhängende Ästhetik. Einige von ihnen haben ihre künstlerische Praxis inzwischen um Schauspielerei ergänzt, um Regie und Schreiben. All das bereichert das Team und diese vielschichtigen Talente werden Teil des Werks. Team Water ist das Team, das in Düsseldorf auftreten wird.

PS: Témoin beinhaltet Tanzkulturen, die in Kontexten wie HipHop, Waacking und Krump verwurzelt sind und üblicherweise außerhalb konventioneller Bühnenumgebungen stattfinden. Diese Tanzkulturen haben reiche, vielschichtige und komplexe Geschichte(n). Wie gehst du vor, wenn du diese Praktiken in eine Bühnenperformance einbindest?

SL: Ich habe Street- und Club-Styles wie HipHop immer schon als grenzüberwindend empfunden; ich fand immer, dass sie Orten ihren Spirit einhauchen. Ihre Entwicklung, von den Ursprüngen im Underground bis hin zu einem breiteren Einfluss, fasziniert mich. Diese Kulturen sind Teil unterschiedlicher Umgebungen und spiegeln soziale Dynamiken und menschliche Erfahrungen wider. Das dann auf die Bühne zu übertragen, ist sowohl eine Chance als auch eine Herausforderung. Für das Publikum ist es eine Einladung, sich mit diesen Kulturen auseinanderzusetzen, das Verständnis zu fördern und ihre Bedeutung und Relevanz anzuerkennen. Allerdings sehe ich meine Stücke nicht als Inszenierungen bestimmter Tanzkulturen oder Ästhetiken; ich denke, sie verarbeiten und repräsentieren geteilte, allgemeine menschliche Erfahrungen. Durch meine Arbeit möchte ich dem Publikum die Möglichkeit geben, die Aufführung auf einer emotionalen Ebene zu erleben und zu verstehen, dass sie das Leben der Tänzer*innen reflektiert. Ich sehe sie als ein Ökosystem, das unsere kollektive Reise widerspiegelt.

PS: Bevor du damit begonnen hast, choreografisch zu arbeiten und die HipHop-Kultur auf bürgerliche Bühnen zu bringen, hast du als Tänzer in Paris an Battles und Jams teilgenommen. Kannst du uns mehr über diese Anfänge und Entwicklungen erzählen, und darüber, was sie für dich bedeuten?

SL: ich tauchte ein in die Tanzszene, weil mich die HipHop-Kultur so fasziniert hat. Erst viel später begann ich als Performer aufzutreten und arbeitete mit bekannten Choroegraf*innen wie Storm aus Deutschland oder Wang Ramirez. Mein Interesse am Ausprobieren choreografischer Ideen wurde während der Arbeit mit meiner Crew, der Bad Trip Crew, geweckt, so um 2011-2012. Als wir anfingen, in Theaterhäusern zu arbeiten, entdeckte ich gleichzeitig mein Interesse an Choreografie und Regie. Ich beobachtete die Tänzer*innen und erzeugte Verbindungen und Verknüpfungen zwischen ihnen. Ich suchte nach Wegen, um sie dazu zu bringen, sich selbst und ihre verschiedenen Facetten zu zeigen. In den Proberäumen gab es, ganz im Gegensatz zu den Battles, Jams oder Street Shows, Zeit, unterschiedliche Bewegungen und die Beziehungen zwischen Tänzer*innen gründlicher auszuloten. Ausgedehntere Probenzeiten ermöglichten tiefere Einblicke in die Einzigartigkeit jeder*/ jedes* Tänzers*/ Tänzer*in. In diesem Kontext lernte ich Bewegung als eine Sprache kennen, durch die wir miteinander kommunizieren und uns gegenseitig verstehen. Dieser Ansatz, einander und den Bewegungen der anderen zuzuhören, zieht sich durch meine Arbeit mit verschiedenen Gruppen. Das ist meine Art, die Dynamiken herauszuarbeiten, die die Komplexität unserer Gesellschaft widerspiegeln und Konflikte, Zerbrechlichkeiten, aber auch gegenseitige Unterstützung beinhalten. In der Entwicklung von der Straße hin zum Theater traf ich selbstverständlich auch auf ein Publikum, das oftmals nicht mit diesen Kulturen vertraut gewesen ist. Als Choreograf verstehe ich meine Aufgabe darin, das Verständnis und die Wertschätzung für diese Kulturen zu fördern und den Dialog zwischen Künstler*innen und Publikum zu bereichern. In Témoin, mit seinem Ensemble von 40 Tänzer*innen, möchte ich die Tänzer*innen befähigen, sich authentisch auszudrücken. Es ist ein allmählicher Prozess, aber einer, der zu Verbindungen und Verständnis führt.

PS: Témoin bedeutet auf Deutsch übersetzt "Zeug*in". Kannst du die Rolle der Zeugenschaft in der Performance näher erläutern?

SL: Absolut, das Konzept der Zeugenschaft ist für Témoin von zentraler Bedeutung. Alle Beteiligten, von den Tänzer*innen über das Publikum bis hin zum Veranstaltungsort, verkörpern die Zeug*innenrolle. Auf der Bühne bringen alle 20 Performer*innen ihre ganz eigenständige Perspektive auf das ein, was sie beobachten, und sie reflektieren sich selbst sowohl als Beobachter*innen als auch als Beobachtete. Mit jeder Aufführung bemühen sie sich, ihre Erfahrungen zu vermitteln und ihren Ausdruck durch Bewegung zu finden.

Zeug*in zu sein bedeutet für mich heute, unseren Platz in der Welt, unsere Ausgesetztheit gegenüber Informationen und den Rhythmen unseres Lebens anzuerkennen. Das umfasst das Anerkennen unserer je persönlichen Erfahrungen, der Belastungen, die wir mit uns herumtragen, und die Transformation dessen in Kunst, die authentisch ist. Und diesen Transformationsprozess auf der Bühne zu zeigen. Im Kontext einer Aufführung bedeutet Zeug*in zu sein eine aktive Auseinandersetzung mit dem, was präsentiert wird, die Absichten der anderen Performer*innen zu verstehen, und dem Publikum als Spiegel zu dienen. Jede*r Performer*in trägt Verantwortung dafür, die Perspektive des Publikums zu lenken und, das sich entfaltende Narrativ durch die eigenen Handlungen auf der Bühne zu gestalten. Ich sehe das als ein dynamisches Zusammenspiel, in dem Performer*innen und Publikum gemeinsam Bedeutung erschaffen.

 

PS: Du erwähnst häufig, dass du mit autodidaktischen Tänzer*innen arbeitest, die ihre Skills und ihre Praxis außerhalb traditioneller institutioneller Rahmenbedingungen entwickelt haben, aus den Kulturen mit denen sie leben, und den Communities mit denen sie verbunden sind. Wenn man das in Betracht zieht, was bedeutet es aus deiner Sicht, als professionelle*r Tänzer*in im Feld des zeitgenössischen Tanzes zu arbeiten?

SL: Es ist ganz wesentlich, dass diese Tänzer*innen ihr Bewegungsvokabular und ihre Styles auf sehr unterschiedliche Arten gelernt haben, und es ist mir wichtig, das auch herauszustellen. Einige von ihnen sind in einem kulturellen Umfeld aufgewachsen, in dem Bewegung und Tanz wichtig sind. Unabhängig von ihrem individuellen Aufwachsen machen sie alle eine Entwicklung durch, eine Phase des Wachstums und der persönlichen Entfaltung. Sie tauchen in verschiedene Tanzkulturen wie Waacking, Krump, Breaking, HipHop, Freestyle, House Dance und Electro ein, besuchen Kurse und arbeiten intensiv, um ihre jeweils einzigartige Bewegungssprache zu entwickeln. Ich sehe das so: der Begriff „autodidaktisch“ trifft die Tiefe und individuelle Qualität ihrer künstlerischen Praxis nicht in angemessener Weise. Ihr Tanz überwindet begriffliche Einordnungen; es handelt sich um eine zeitgenössische Ausdrucksweise, die sich beständig weiterentwickelt. Der Stil jede*s/jede*r Tänzer*in ist persönlich und unverwechselbar. Es ist wie eine Sprache, die sie im Laufe der Zeit ausgebildet hat, wobei sie aus ihren Erfahrungen und kulturellen Einflüssen schöpfen. Während sie sich entwickeln, entwickelt sich ihr Tanz mit ihnen. Im Feld des zeitgenössischen Tanzes geht es darum, diese Fülle und Vielfalt künstlerischen Ausdrucks anzuerkennen. Diese Tänzer*innen tragen zur kulturellen und künstlerischen Landschaft bei und bieten einzigartige Perspektiven auf Gesellschaft und Identität. Es ist wichtig, dass solche Stimmen einen Platz in diesen Räumen bekommen. Ihre Stimme ist wertvoll und notwendig für die weitere Entwicklung und zukünftige Relevanz des zeitgenössischen Tanzes.

PS: Du hast die Bad Trip Crew erwähnt, die Teil deiner Biographie und deiner Auseinandersetzung mit der HipHop-Kultur ist. Kannst du uns erzählen, wie du mit HipHop in Berührung gekommen bist und von wem du gelernt hast?

SL: Ich hatte einen eher unüblichen Start mit HipHop im Jahr 2001. Anfangs habe ich mich intensiv mit Akrobatik beschäftigt und ganze Tage springend und kletternd mit einem Freund verbracht, der Parkour gemacht hat. Das hat mein Interesse an Bewegung geweckt, und ich wurde zu so einer Art Stuntman. Ich habe mir in dieser Zeit auf jeden Fall den einen oder anderen Knochen gebrochen. Meine Mutter hat sich ziemliche Sorgen um mich gemacht. Einmal habe ich eine Gruppe Freund*innen zum Breaking begleitet, und das hat mich wirklich fasziniert. Danach fing ich an, Choreos vor dem Spiegel zu machen und dabei Hype, Locking und Popping zu lernen, auch, um meine Mitschüler*innen zu beeindrucken. Aber nach und nach wurde Breaking zu meinem wichtigsten Standbein. Breaking hat mir ein Gefühl von Gemeinschaft und Freundschaft gegeben, und auch, da ältere Tänzer*innen meinen Fortschritt begleitet haben, ein Gefühl der Verbundenheit mit Personen, die ich als Mentor*innen bezeichnen würde. Ein entscheidender Moment war meine Begegnung mit der Wanted Posse Company bei einem Festival. Als ich deren Show gesehen habe, hat das meine Faszination für die ganze Bandbreite des HipHop geweckt. Bis dahin war ich mir nicht bewusst, dass HipHop diese ganze Kultur aus den USA war. Ich dachte, es wäre etwas, das nur wir auf unserem Trainingsgelände in Paris feierten. Danach fingen wir an, DVDs zu tauschen, beschäftigten uns mit Battles und lernten Tanzroutinen aus den USA oder aus Deutschland. Ich habe jede Gelegenheit, die sich mir bot, genutzt, um mich mit HipHop zu beschäftigen und ständig zu üben, in der Schule, im Supermarkt, und auch zu Hause. Meine Eltern, die erst einmal nichts von meiner Hingabe mitbekamen, haben nach und nach erkannt, was mir all das bedeutete. Während ihre Bedenken wuchsen, haben sie doch schlussendlich den immensen Einfluss, den HipHop in meinem Leben hatte, anerkannt.

PS: Wie stellst du dir die Zukunft urbaner Tanzkulturen im Bühnenkontext vor?

SL: Ich hoffe, dass wir das Labeln von Tanzformen als „urban“ hinter uns lassen und sie stattdessen als wesentliche Bestandteile einer breiteren Tanzkultur anerkennen können. Der Schwerpunkt sollte sich auf die einzelnen künstlerischen Visionen und den Ausdruck verschieben und stilistische Einordnungen überwinden. Ich denke, dass es das Wesen der Kunst ist, Menschen mit ihrer inneren Poesie zu verbinden. Trotz Herausforderungen, wie sie beispielsweise die Normalisierung von Nationalismus oder Krieg mit sich bringen. Wir müssen gegenseitiges Verständnis aufbringen, Zusammenarbeit etablieren, mit weniger Ego, besonders inmitten aktueller Debatten über Kulturpolitik und die Rolle von Institutionen. Außerdem denke ich, dass die Zukunft von jenen gestaltet werden sollte, die sie leben werden, also besonders von der jüngeren Generation. Junge Tänzer*innen, die tief in der HipHop-Kultur verwurzelt sind, verdienen einen Platz am Tisch, um über dessen Zukunft mitzubestimmen.

Das Interview führte Philipp Schaus, Dramaturg am tanzhaus nrw.

Performer blickt über Schulter in Kamera

Témoin

Saïdo Lehlouh
Nacht der Museen / Dt. Erstaufführung
27.04. + 28.04.