Backstage mit Dana Yahalomi (Public Movement)

Eine Performance im öffentlichen Raum. Zwei Performer*innen tragen eine weitere Person. Hinter ihnen befindet sich Publikum.

Unsere Interviewreihe mit Künstler*innen heißt „Backstage mit“ und greift damit einen gängigen Begriff aus dem Theaterkontext auf. Eure Arbeiten mit Public Movement sind Aktionen oder Performances im öffentlichen Raum. Gibt es in eurem Arbeitskontext eigentlich einen Backstage-Bereich oder einen vergleichbaren Raum?

Es ist lange her, dass ich als Tänzerin gearbeitet habe, aber ich erinnere mich an widersprüchliche Vorstellungen vom Backstage-Bereich. Manche glaubten, dass alles, was hinter der Bühne passiert, auf die eine oder andere Weise auf die Bühne übertragen wird. Ich habe großes Interesse an den Backstage-Bereichen der Politik und unseres gesellschaftlichen, sozialen Lebens. Viele Dinge passieren hinter oder abseits der öffentlichen Bühnen und wir als Bürger*innen haben keinen Zugang dazu. Als Künstlerin, die mit Performance arbeitet, interessiert es mich, die Backstage-Bereiche der Identitätsbildung, der ideologischen Konstruktionen zu erforschen. In unserer Arbeit mit Public Movement bringen wir das auf die Bühne, was wir normalerweise nicht wahrnehmen, und gleichzeitig, wie Du sagtest, finden unsere Performances im öffentlichen Raum statt. Hier gibt es nicht nur keinen Backstage-Bereich, sondern das, was hier auf ‚der Bühne‘ passiert, ist unvorhersehbar. Wir arbeiten in unseren Performances mit Konzepten des Risikos. Ich würde sogar sagen, dass der Grund, warum wir nie für Theaterbühnen arbeiten, darin liegt, dass wir in gewisser Weise süchtig nach dem Risiko sind, dem Risiko, mit künstlerischen Mitteln im sozialen Bereich zu arbeiten. Im Laufe der Jahre haben wir eine Reihe von Fähigkeiten entwickelt, die es uns als Gruppe von Performer*innen ermöglicht, auf die Unvorhersehbarkeit, die auftreten kann, zu reagieren, sie zu manövrieren und zu integrieren. Wir trainieren die nonverbale Kommunikation innerhalb der Gruppe, wenn wir unsere Aktionen während einer Performance ändern oder anpassen müssen, seit 17 Jahren. Wir können uns nicht strikt an ein Skript halten, die Umgebung fließt in die Aktion selbst ein, und es ist wunderschön, wenn das passiert. Selbst in Theaterräumen ist es unvorhersehbar, wie Publikum reagiert, aber die Zuschauer*innen sitzen hier normalerweise im Dunkeln. Im urbanen öffentlichen Raum gibt es keine Dunkelheit und kein Spotlight: hinsichtlich der Aufmerksamkeit und der Öffentlichkeit sind es gleichberechtigte Situationen. All diese Dinge, wer gesehen wird und wer im Dunkeln bleibt, sind mit dem Konzept des Backstage verbunden. Uns interessiert die Durchlässigkeit, das Hinein- und Hinausfließen und wir nutzen das als Material für die Performances selbst.

Der Philosoph und Soziologe Oliver Marchart hat die Arbeit von Public Movement als eine künstlerische Vivisektion von Körpern in ihrer Beziehung zum Staat beschrieben. Ihr bezeichnet eure Praxis als einen performativen Forschungskörper. Was versteht ihr darunter?

Gehen wir zurück zur Gründung von Public Movement am 29. Dezember 2006. Unsere erste Aktion war ein Unfall, der sich im Zentrum von Tel Aviv an einer Kreuzung ereignete. Damals waren wir noch keine feste Gruppe. Wir waren ein loser Zusammenschluss von Freund*innen und Kolleg*innen. Wir wollten das nationale Ritual der Schweigeminute untersuchen, das in Israel hauptsächlich an Gedenktagen praktiziert wird. Wir haben einen geprobten, aber dennoch realen Unfall zwischen einem Fahrzeug und eine*r Passant*in inszeniert. Es kommt zu einer physischen Kollision zwischen der Maschine, d.h. dem Motor und dem Metall des Autos, und dem Fleisch des Körpers. In der Kunst ruft dies sofort Assoziationen mit dem Futurismus und seinem Begründer Marinetti hervor – die Maschine verkörpert auf verschiedene Weisen Regierungsmacht. Während der Inszenierung des Unfalls – wir wollten ihn dreimal wiederholen – brach nach dem zweiten Mal in unserer Gruppe ein Streit aus. Es ging um die Frage, ob es legitim und ethisch vertretbar sei, etwas im öffentlichen Raum zu inszenieren, das so echt aussieht, dass die Leute es nicht sofort als Kunst identifizieren können. Nichts an dem Unfall deutete darauf hin, dass es sich tatsächlich um eine Performance handelte. Die Reaktionen der Menschen und ihre Emotionen sind real, roh und ungefiltert. Es gibt keine Sublimierung. Wenn man eine Waffe im Theater, auf einer Bühne sieht, weiß man, dass sie niemanden verletzen wird. Wir haben also hitzig darüber diskutiert, ob wir den nächsten Unfall, den dritten, noch ausführen sollten. Daraus entwickelte sich eine faszinierende Diskussion über die Grenzen der Kunst, die Ethik der Partizipation, das Verhältnis zwischen Realpolitik und ihrer Darstellung in der Kunst und darüber, wie mögliche Experimente und Interventionen von künstlerischen Methoden profitieren. Uns geht es darum, die Grenzen zwischen einer künstlerischen und einer politischen oder sozialen Aktion zu verwischen. Genaugenommen sind diese Grenzen schwer zu ziehen. Der Staat, die Politik tritt in Performances, in Inszenierungen in Erscheinung. Gleichzeitig sind das künstlerische Leben oder künstlerische Aktionen Teil der Realität und können die Realität manipulieren und verändern. Auf der Basis dieses Arguments wollten wir eine Gruppe gründen, die ein Experiment ist, gleichzeitig Subjekt und Objekt, das es zu erforschen gilt. Ich würde also sagen, dass Public Movement zufällig entstanden ist. Es gab keine Absicht dahinter oder einen Masterplan. Public Movement ist aus dieser Reibung heraus entstanden. Und weil wir uns zu Räumen der Ambivalenz hingezogen fühlten. Seit 17 Jahren arbeiten wir in denselben Randgebieten, in diesen Grauzonen zwischen Leben und Kunst. Wir sind ein Kollektiv, das seine eigene Terminologie und Forschungsmethodik entwickelt hat. Wenn wir also von einem performativen Forschungskörper sprechen, bezieht sich das auf einen Körper (d.h. eine Gruppe von Menschen), der in der Welt existiert. Wir konzentrieren uns auf das Verhältnis von Staat und Bürger*innen in einem physischen Kontext. Unsere Forschung ist praxisorientiert. Es ist keine Forschung, die vor der Aktion durchgeführt wird; wir sind vielmehr an dem Wissen interessiert, das aus körperlichen und öffentlichen Interventionen gewonnen wird.

Im tanzhaus nrw konzentrieren wir uns in dieser Spielzeit auf „Dancing in Public“ und untersuchen Tänze im urbanen Raum und wie Tanz genutzt werden kann, um öffentliche Räume und Öffentlichkeiten herzustellen. Ich musste an eure legendäre Aktion „How long is now?“ (2007/2011) denken, bei der ihr mit Kreistänzen eine Straßenkreuzung blockiert habt. Tanz spielt auch heute eine wichtige Rolle bei Protesten und Demonstrationen. Welches Potenzial schreibst du Tanz zu?

Wir fassen Tanz sehr weit und denken über Choreografie in analytischen Begriffen nach. Unsere Choreografien sind eher das Ergebnis von Dekonstruktion und Nachahmung als von Imagination; wir erfinden selten Bewegungen, sondern analysieren bestehende Bewegungen, die wir neu komponieren. Diese Bewegungen gehören der Öffentlichkeit. Deshalb gibt es die Idee eines*r Choreograf*in bei Public Movement nicht. Es gibt keine Autor*innenschaft für diese Bewegungen. Wenn Publika an Performances teilnehmen, denke ich, dass sie sich als Eigentümer*innen der Bewegungen fühlen, und damit haben sie Recht. Dadurch entsteht eine andere Beziehung zwischen Zuschauer*innen und der Choreografie.

Fun Fact: Wir haben diese Aktion nie „How long is now?“ genannt. Das ist ein großartiges Beispiel für die Abgabe der Kontrolle über die Historisierung einer Performance, wenn man im öffentlichen Raum arbeitet. Eine Person hat die Aktion gefilmt und auf YouTube gepostet und das Video „How long is now?“ betitelt. Oliver Marchart sah dieses Video und übernahm den Titel anschließend in einem seiner Artikel über uns. Letztlich ist es ein verführerischer Titel und eine sehr gute Frage. Wir sehen diese Prozesse im Zusammenhang mit der Unvorhersehbarkeit und dem Tod von Autor*innen. Diese Art des Nachlebens einer Aktion wirft neues Licht auf die Aktion selbst und erzeugt Wissen.

Die Aktion ist 2007, im ersten Jahr von Public Movement, entstanden. Sie wurde für das von Galit Eilat kuratierte Centre for Digital Art als Teil einer Reihe von Aktionen im öffentlichen Raum in Holon, einer Stadt südlich von Tel Aviv, realisiert. Wir waren an der Dynamik interessiert, die entsteht, wenn eine Straße aus Protest blockiert wird. In solchen Fällen ist oft eine tangoähnliche Beziehung zwischen Aktivist*innen und Polizeibeamt*innen zu beobachten. Auf der einen Seite steht die Polizei, auf der anderen Seite die Demonstrant*innen. Und dazwischen herrscht eine berstende Spannung, die an die Beziehung zwischen zwei Tangotänzer*innen erinnert. Wir wollten damit experimentieren, was passiert, wenn wir die Energie von einer frontalen in eine kreisförmige umwandeln – und ob man eine Straße mit einem Ausbruch von Freude anstatt eines Ausbruchs von Wut oder Frustration blockieren kann. Viele haben das körperliche Wissen, wie man gemeinsam protestiert, und in Israel sind viele mit Volkstänzen vertraut. Wir haben uns also das in den Körpern schlummernde Wissen über Protest und Tanz zunutze gemacht und es kombiniert. Als wir 2007 die Straße in Holon blockierten, hatte das eine sehr interessante Wirkung. Einige Leute blieben stehen und schlossen sich uns an, weil sie die Schritte kannten; Tanzen hat etwas sehr Anziehendes. Die Aktion vermittelt die Erfahrung, dass wir die Bewegung mit unseren Körpern stoppen können. Teilnehmer*innen verstehen, dass eine Masse von Körpern Bewegung unterbrechen kann. Das ist auch eine Metapher für die Trägheit des Lebens. Dinge passieren, aber wir machen trotzdem weiter wie bisher. Diese Bewegung zu stoppen, Stille zu schaffen, das würde ich als einen zivilen Akt bezeichnen. Als wir das 2007 gemacht haben, war es sehr experimentell; aus heutiger Sicht hatte es etwas Unschuldiges an sich. 2011 entstand die internationale Occupy-Bewegung, die sich aus dem Arabischen Frühling entwickelte und auch in Israel stattfand. Zu dieser Zeit trennten sich die Wege von Omer Krieger und mir, was die Leitung von Public Movement anging. Ich blieb bei Public Movement, während Omer weiter an seinen eigenen künstlerischen und kuratorischen Projekten arbeitete. Zu dieser Zeit waren wir beide nicht in Israel. Mitglieder von Public Movement beschlossen, dass sie die Aktion mit den Kreistänzen in einem Occupy-Kontext nutzen wollten, um Straßen zu blockieren und die Praxis mit vielen Menschen zu teilen. Dies ist ein Beispiel dafür, – ich komme hier auf die Unfälle zurück – wie sich das wirkliche Leben und künstlerische Initiativen gegenseitig reflektieren. Ich denke, es ist sehr wichtig für Public Movement, Werkzeuge oder Methoden zugänglich zu machen, die den Körper aktivieren.

Ihr arbeitet bereits sehr lange in öffentlichen Räumen. Wie hat sich der öffentliche Raum im Laufe der Jahre verändert? Sind heute andere Strategien und Ansätze wichtig oder wirksam als früher? Gibt es neue Herausforderungen?

In der Arbeit von Public Movement kommen wir immer wieder auf diese Frage zurück. Jedes Jahr diskutieren wir erneut, was zu tun ist. Ja, ich denke, dass sich der öffentliche Raum seit dem Beginn unserer Arbeit im Jahr 2006 dramatisch verändert hat. Claire Bishop reflektierte darüber in einer Ausgabe der von Florian Malzacher kuratierten Reihe „The Art of Assembly“. Sie war 2022 dazu eingeladen, ihr Buch „Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship“ zehn Jahre nach der Veröffentlichung neu zu lesen und zu reflektieren. Bishop betonte, sie hätte ihre Überlegungen vor der Occupy-Bewegung formuliert. Ein Buch wird schließlich Jahre vor seiner Veröffentlichung geschrieben. Sie wollte mit ihrem Text Performances des Antagonismus, Performances von Uneinigkeit vorantreiben, die Ermächtigung durch das Zusammensein in öffentlichen Räumen, wie eine Gruppe sich bewegt und aufeinanderprallt. Als das Buch schließlich veröffentlicht wurde, waren sowohl der Arabische Frühling als auch die Occupy-Bewegung in vollem Gange. Die Politik wurde dann sehr polemisch, alles drehte sich darum, gegen diese Bewegungen vorzugehen, auch gewaltsam. An vielen Orten wurden öffentliche Räume in Brand gesetzt. Bishop vertrat die Ansicht, dass es die Aufgabe der Kunst sei, den nächsten Schritt zu tun, wenn der öffentliche Raum erst einmal verändert sei. Ich denke, das ist der Grund für diese weitreichende Neuausrichtung der Kunst auf Care, Fürsorge, Heilung und auf schamanistische Arbeiten – als Widerspruch zu dem, was im öffentlichen Raum geschah.

2013 gingen wir mit Public Movement in die Museen. Die Nutzung des öffentlichen Raums wandelte und veränderte sich, und unsere Intuition war, die Art und Weise, wie wir ihn sozusagen im Griff hatten, zu lockern. Wir wollten unsere Fragen ins Museum und in die Kulturinstitutionen bringen und diese Räume als politische Akteure aktivieren. 2017/18 begannen wir, uns für Routinen in Notfällen zu interessieren. Das Stück, das wir in Düsseldorf zeigen werden, ist Teil einer Serie, die sich damit beschäftigt, wie wir als Bürger*innen den Umgang mit Katastrophen proben. Und dann im Jahr 2020: Covid. Der öffentliche Raum leerte sich vollständig. Wenn in einem als öffentlich ausgewiesenen Raum keine Bewegungen stattfinden, nichts passiert, dann existiert er nicht.

Heute sind wir mit viel Giftigkeit in öffentlichen Räumen und viel Gewalt konfrontiert. Ich habe das Gefühl, dass wir uns in der Post-Shame-Ära befinden. Wir gehen auf die Straße und schreien „Schande, Schande, Schande“, und das ist kein Konzept mehr, es hat keinen Wert. Jetzt wurden die Grenzen und Wertesysteme aufgebrochen, was erlaubt und was nicht erlaubt ist, wurde durchdrungen. Mehr als alles andere empfinde ich das Fehlen von Scham in dem, was Menschen heute in öffentlichen Räumen angetan werden kann.

Am 6. und 7. April 2024 finden die ortsspezifischen Performances von „Emergency Routine“ auf dem Johannes-Rau-Platz in Düsseldorf statt. „Emergency Routine“ wurde 2019 vor dem Parlament in Stockholm uraufgeführt. Für diese Arbeit habt ihr euch mit der wahrscheinlich größten Evakuierungsübung der Welt in Friedenszeiten beschäftigt – der Operation Stockholm 1961. Wie wurde dieses Großereignis dokumentiert und wie habt ihr es künstlerisch produktiv gemacht?

Die erste Version von „Emergency Routine“ wurde für das Festival „Choreographies of the Social“ entwickelt, das von Edi Muka für die Public Art Agency Sweden kuratiert wurde. Wir beginnen in der Regel mit einer umfassenden Recherche, um die Geschichte und die politische Geografie einer Stadt zu erforschen. Dabei stießen wir in Stockholm auf die Geschichte der größten Evakuierungsübung, die jemals in Friedenszeiten durchgeführt wurde und die im April 1961 stattfand. In den 1960er Jahren begannen der Staat und das schwedische Militär aufgrund des Kalten Krieges mit der Herausgabe einer Broschüre, die an alle Haushalte verteilt wurde und den Titel „If Crisis or War Comes“ trug. Ein großer Teil der Broschüre befasste sich mit der Frage, was zu tun ist, wenn eine Evakuierung erforderlich ist. Sie war mit schönen grafischen Darstellungen von Menschen versehen, die ihre Häuser und Wohnungen verließen, und mit Erklärungen, wohin man gehen sollte und welche verschiedenen Wege es gab. In den 1960er Jahren herrschte der Konsens, dass der Staat, das Militär, die Polizei sich um die Bürger*innen, um ihre körperliche Unversehrtheit kümmern würde: Wir werden euch transportieren, wir werden euch mobilisieren, wir werden euch ernähren und versorgen, wenn ihr draußen im Wald seid.

Etwa 50 Jahre später wurde das Pamphlet zum ersten Mal neu gedruckt. Diesmal hieß es: When Crisis or War Comes“ – offenbar ist es nur noch eine Frage der Zeit. Der Anlass war der Einmarsch Russlands in Georgien und der Ukraine. Die Regierung befürchtete, dass Russland auf die eine oder andere Weise in Schweden einmarschieren würde. Also beschloss sie, diese Broschüre erneut zu veröffentlichen, aber diesmal, um zu vermitteln, dass der Staat sich nicht um seine Bürger*innen kümmern wird. Während 1961 der Staat die Evakuierung durchgeführt hätte, wird 2019 die Verantwortung auf die Bürger*innen übertragen. Wir sind der Meinung, dass auch die Künstler*innen Verantwortung übernehmen sollten. Wir haben uns mit mehreren Mitarbeiter*innen des Militärs und der Polizei, dem sogenannten Crowd Management, getroffen und ihre Strategien erforscht. Viele sagten uns, dass sie Angst haben, dass die Bürger*innen nicht glauben, dass der Staat nicht in der Lage ist, sich um sie zu kümmern. Public Movement hat von diesen Expert*innen gelernt, wie man evakuiert, wie man anhebt, wie man schleppt, wie man kontrolliert, wie man sich um Verletzte kümmert, was man tut, wenn jemand nicht willens ist, sich zu fügen. Die Performance fand vor dem schwedischen Parlament statt. In gewisser Weise war es also gleichzeitig eine offizielle und eine nichtoffizielle Übung. Ich denke, dass öffentliche Versammlungen an und für sich Übungen sind, unabhängig davon, ob es sich dabei um künstlerische Ereignisse handelt oder nicht. Die Aufführungen fühlen sich jedes Mal anders an, wenn wir das Stück aktivieren. Als wir das Stück in Białystok, Polen, nahe der Grenze zu Weißrussland, drei Monate nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine aufführten, herrschte in Polen große Angst. Es war herzzerreißend, denn im Publikum saßen ukrainische Geflüchtete. Haben sie etwas re-enacted, das erst kürzlich stattgefunden hatte? Oder war es das Preenactment eines zukünftigen Ereignisses? Das Stück fühlt sich an verschiedenen Orten sehr unterschiedlich an, und ich kann nicht genau vorhersagen, wie es sich in Düsseldorf anfühlen wird, und was aus dem aktuellen Leben dort eingebracht werden wird.

Ich frage mich, was es angesichts der weltpolitischen Lage und der Kriege bedeutet, in Düsseldorf Evakuierungsroutinen für Notfälle zu üben – in einem in vielerlei Hinsicht vergleichsweise sehr sicheren Kontext, während sich gleichzeitig „anderswo“, auch in Israel, wo ihr lebt und arbeitet, lebensbedrohliche, vernichtende Notfälle ereignen?

Das ist eine sehr gute Frage. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel werden regelmäßig ganze Stadtteile und Bezirke geräumt, weil dort nicht explodierte Kampfmittel aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurden. Die Geschichte bricht buchstäblich aus dem Inneren der Erde hervor und erinnert uns daran, dass dieser Ort nicht immer so funktioniert hat, wie er heute funktioniert. Ich denke auch an sehr lebhafte politische Protestbewegungen, die von der Polizei geräumt wurden, oder an die physische Erinnerung von Geflüchteten, denen die Evakuierung und Flucht nach Europa gelang. Auf lokaler Ebene könnte es sich um eine Art Preenactment einer möglichen Zukunft handeln. Viele Menschen sind aus gutem Grund besorgt über die Klimakrise und drohende Naturkatastrophen. Es stellt sich die Frage, was passieren würde, wenn die Bewohner*innen diesen Ort verlassen müssten. Und dann ist da die aktuelle Situation in Gaza. Das ist ein ganz und gar schrecklicher Krieg. Millionen von Menschen wandern aus, sterben und verhungern, werden bombardiert oder erkranken. Wir sehen es jeden Tag und es passiert jeden Tag. Ich denke, die Zuschauer*innen in Düsseldorf werden gewisse Assoziationen mit der Aufführung haben, da wir aus Tel Aviv kommen. Ich weiß nicht, was in diese Beziehungsgeflechte hineingelesen wird und was daraus entstehen wird.

Ich bin sicher, dass viele angesichts von „Emergency Routine“ an aktuelle Notsituationen mit zahlreichen zivilen Opfern in diversen Kriegen mitfühlend denken werden – mich selbst eingeschlossen. Ich finde, dass das Stück nicht zuletzt aufgrund seiner Aufführungsgeschichte in verschiedenen Kontexten und an verschiedenen Orten wie Stockholm, Rom, Tel Aviv aber auch Białystok komplex informiert ist und viele Schichten entfaltet. Es hat derzeit sicher eine sehr starke Dringlichkeit. Ich würde gerne grundsätzlich darüber sprechen, wozu ihr die Öffentlichkeit einladet. Welche Art von Erfahrung wollt ihr erzeugen? Was ist eure Vorstellung von Zuschauer*innenschaft? „Emergeny Routine“ ist ja ein Stück mit einer bestimmten Dramaturgie, die Idee ist, dass man es von Anfang bis Ende rezipiert.

Immer wenn das Stück aktiviert wird – auch, wenn es von Mitgliedern von Public Movement geleitet wird – schafft es eher eine Arena und weniger eine Bühne. Die Zuschauer*innen werden ziemlich schnell Teil des Stücks. Es gibt eine bestimmte Art der Berührung. Die Art und Weise, wie wir auf Publika zugehen, und die Möglichkeit, ja oder nein zu sagen, sind wichtige Teile der Performance. Aber nach all unseren Erfahrungen in den verschiedenen Städten und mit den unterschiedlichen Publika hatten wir vorher immer Sorge, dass niemand mitmacht. Aber letztlich machen die Zuschauer*innen mit. Die Choreografie ist vertraut und bekannt. Es geht nicht darum, Schritte zu kennen, sondern vielmehr darum, die Beziehung zwischen dem eigenen Körper und dem Körper eines Gegenübers, eines Fremden zu untersuchen. In der Performance gibt es Momente, in denen wir uns gegenseitig tragen. Für uns ist das eine Übung, die im Sinne der Körperlichkeit, aber auch der Poetik wichtig ist. Also als Gesellschaft: wie tragen wir das Gewicht der Anderen? Auch in einem poetischen Verständnis von Gewicht – kann ich das Gewicht einer Person tragen, die viel schwerer ist als ich und wie? Und wann habe ich die Legimitation, jemanden zu berühren? Als wir die Performance in Stockholm aufführten, hatten die Gäst*innen kein Problem damit, sich gegenseitig zu berühren, wenn es um Anleitung oder Fürsorge ging, aber sobald die Berührung den Hauch einer polizeilichen Spannung, eines Machtgefälles, hatte, fühlten sie sich nicht legitimiert, Handlungen auszuführen oder sie fühlten sich schlecht dabei. Das hat so viele Fragen aufgeworfen, wobei das Dilemma dieses ist: Überlasse ich die Polizeiarbeit der Polizei, oder ziehe ich es vor, dass meine Nachbar*innen mich gewaltsam die Treppe hinuntertragen? Irgendwie ziehe ich meine Nachbar*innen vor; ich vertraue ihnen mehr als der Polizei. Aber wäre ich zum Beispiel befugt, dich, Lucie, an der Hand zu nehmen und dich herauszuziehen? „Emergency Routine“ ist letztlich eine Übung. Es gibt keinen Notfall, keine Katastrophe. Es gibt kein Blut. Keine Schreie. Es ist sauber und analytisch, eine fast formalistische Choreografie.

Du hast vorhin den Begriff Preenactment genutzt, der im Zusammenhang mit eurer Arbeit eingeführt wurde. Preenactment bedeutet so etwas wie die Voraufführung eines zukünftigen Ereignisses – im Sinne eines Rollenspiels in Science-Fiction-Szenarien. Du meintest, dass in gewisser Weise eine Evakuierungsübung ein solches Preenactment ist und das Einstudieren und Üben bestimmter physischer Prozesse und Handlungen bedeutet. Sollten solche Übungen deiner Meinung nach regelmäßig stattfinden, um Routinen, Sicherheit und ein Gefühl der Gemeinschaft – auch im Hinblick auf Zukunftsszenarien – zu schaffen?

Ja, auf jeden Fall. Ich denke, wir sollten regelmäßig üben, es würde das Vertrauen ineinander stärken, das Miteinander und die Solidarität. Ich würde mich freuen, wenn eine Institution auf uns zukommt und „Emergency Routine“ immer wieder, sagen wir zweimal im Jahr, aktivieren möchte. Wie ein Ritual oder eine Routine.

Du hast bereits über die Bombenentschärfungen als einen regional wichtigen Aspekt von „Emergency Routine“ gesprochen. Fast 50 Prozent aller Bomben des Zweiten Weltkriegs wurden auf NRW abgeworfen, jedes Jahr tauchen tausende wieder auf. Was die ortsspezifische Edition der Performance betrifft: Was interessiert euch im Kontext von Düsseldorf noch?

„Emergency Routine“ macht wie angedeutet eine sehr komplexe Beziehung zwischen Vergangenheit und Zukunft auf. Man weiß eben nie, ob es sich um einen Rückblick auf ein vergangenes Ereignis oder um die Vorwegnahme eines zukünftigen Ereignisses handelt. In Deutschland sind diese beiden Aspekte für mich sehr deutlich und immer da. Wir haben uns sehr bewusst für den Austragungsort, also den Johannes-Rau-Platz, entschieden. Der Platz liegt in der unmittelbaren Nähe des Landtags und der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen. Der Platz ist nach einem beliebten SPD-Politiker benannt, der Bundespräsident war, und ein Museum zur Parlamentsgeschichte befindet sich dort. Demonstrationen starten oder enden an dem Platz, Kundgebungen finden hier statt. Gleichzeitig ist der Platz direkt am Rhein und einer Art Naherholungsgebiet, also ein Ort zwischen Freizeit und Politik, er verbindet beides miteinander.

Bevor wir uns gemeinsam auf die Suche nach dem Ort für die Düsseldorfer Ausgabe von „Emergency Routine“ machten, warst du mit Public Movement bereits 2016 auf Einladung des Impulse Theater Festivals und des FFT in Düsseldorf. Im Rahmen des Projekts „Macht Kunst Politik!“ habt ihr mit Politiker*innen aller Parteien im Rathaus diskutiert. Was waren die bemerkenswertesten Ergebnisse? Und wie hast du Düsseldorf in Erinnerung?

Die Aktion wurde vom Impulse Festival unter der Leitung von Florian Malzacher in Auftrag gegeben. Es war sehr interessant, weil die Veranstaltung kurz vor den Wahlen in NRW stattgefunden hat. Nur sehr wenige Parteien haben eine klare kulturelle Agenda. Die Frage an die teilnehmenden Politiker*innen war: Wenn wir Sie wählen, wie sieht dann die Kultur in NRW aus? Geht es um Repertoiretheater, um eher kommerzielle Projekte oder denken Sie, dass Kunst in den öffentlichen Raum, in die Öffentlichkeit gehört? Finden Sie, dass Kunst kostenlos zugänglich sein sollte? „Macht Kunst Politik!“ war also ein Vorwand, um an jede einzelne Partei heranzutreten und zu hören, was sie für Kultur tun will. Jede*r Politiker*in hatte sieben Minuten Zeit, das zu präsentieren. Es gab daneben auch eine Zusammenarbeit mit der regionalen Kulturszene, Musiker*innen, Kunstschaffende, Intendant*innen und Professor*innen waren beteiligt. Aber es war eine Aktion, bei der es weniger um die Aufführung selbst ging, sondern darum, bei den politischen Parteien Druck zu erzeugen, dass sie eine ausgearbeitete Kulturpolitik vorweisen und diese öffentlich machen sollten. In gewisser Weise findet die Aktion also im Backstage statt, um zum Anfang unseres Gesprächs zurückkommen. Das, was auf der Bühne zu sehen ist, repräsentiert nicht umfassend die Prozesse, die dahinterstehen. Ich fühle mich durch die Arbeit in gewisser Weise schon vertraut mit Düsseldorf und NRW.

Vielen Dank für das Gespräch! Wir sind sehr gespannt auf die Performances von „Emergency Routine“.

 

Dana Yahalomi ist seit 2011 die künstlerische Leiterin von Public Movement, ein performativer Forschungskörper, den sie 2006 mitgegründet hat. Public Movement erforscht und inszeniert Aktionen im öffentlichen Raum. Die Gruppe untersucht und kreiert öffentliche Choreografien, Formen sozialer Ordnung, offene und verdeckte Rituale und arbeitet mit verschiedenen künstlerischen Medien wie Performance, Tanz und bildender Kunst. Public Movement arbeitet an Kunstinstitutionen weltweit, darunter MAXXI Rom; Public Art Agency Sweden, Stockholm; Museo Novecento, Florenz; CCA Tel Aviv; Solomon R. Guggenheim Museum, New York; Göteborg Biennale, Schweden; HAU, Berlin; Asian Art Biennial, Taipeh; Australian Centre for Contemporary Art Melbourne und steirischer herbst, Graz.

Public Movement hat mehrere Preise gewonnen, zuletzt den Essential Art Prize (2021) und den Rosenblum Prize for Performance Art (2017).

Die Fragen stellte Lucie Ortmann, Dramaturgin am tanzhaus nrw.

Eine Performance im öffentlichen Raum. Zwei Performer*innen tragen eine weitere Person. Hinter ihnen befindet sich Publikum.

Emergency Routine

Public Movement
Dt. Erstaufführung
Sa 06.04. + So 07.04.