Backstage mit Brigitte Huezo
Als Choreograf*in und Tänzer*in, wo siehst du das Potenzial digitaler Technologien? Wie wirken sich Technologien deiner Meinung nach auf die Gesellschaft aus? Was macht Technologie möglich? Was kann mit ihr gezeigt werden?
Was gezeigt werden kann und was nicht gezeigt werden kann, hat mit Binarität zu tun, und da beginne ich bereits mich zu interessieren. Ich arbeite dekonstruierend. Es motiviert mich, etwas ganz Bestimmtes zu lernen, wie Technologie funktioniert, wie ich damit arbeiten und ihr eine veränderte Perspektive hinzufügen kann. Manchmal steht die Technologie nicht in direktem Zusammenhang mit dem Körper, und der Körper steht nicht in direktem Zusammenhang mit der Technologie. Wir befinden uns also zwischen diesen beiden Polen. Ich denke, das sollte nicht so sein. Die Technologie ist ein Teil von mir; ich lebe in diesen Erweiterungen der Technologie. Ich kann mich nicht an eine Zeit erinnern, an der ich keinen Zugang zum Internet hatte. Ich habe das Tanzen nicht in einem Studio gelernt. Ich habe es immer vor einem Bildschirm gemacht. Für mich war die Technologie auch ein Werkzeug, um mich selbst zu sehen und mich von meinem Körper zu lösen – ich sehe meinen Körper durch ein Medium.
Wie würdest du deine spezifische Sicht auf den Körper – online und onsite – beschreiben, die sich aus dieser Arbeit ergibt?
In letzter Zeit verwende ich mehr und mehr den Begriff Phygitalität. Es ist, als ob man sich in zwei Räumen gleichzeitig befindet. Da ich aus dem Tanz komme, würde ich es so beschreiben. Vielleicht braucht der Begriff noch mehr Forschung oder Ausarbeitung, aber ich kann mich mit ihm identifizieren. Mir ist es wichtig, dass ich die Agency der Technologie und gleichzeitig die Agency des Körpers im Auge habe. Wie das Virtuelle performt wird – oder wie das Virtuelle uns performt. Wenn man sich in einem virtuellen Raum befindet, arbeitet das Gehirn auf eine besondere Weise. Es ist wie ein Perspektivenwechsel, bei dem sich alles verändert und man auf neue Weise mit der virtuellen Umgebung interagieren kann. Der Körper reagiert mit einem Gefühl der Verbundenheit, als ob man sich in einem physischen Raum befindet und die Objekte um sich herum wahrnimmt. Es gibt aber auch ein abstraktes Element, ein Objekt, das sich auf dem Bildschirm bewegt. Während meines Studiums des zeitgenössischen Tanzes fragte ich mich, wie sich Tanztechniken in diese virtuelle Welt übertragen lassen. Ballett war zum Beispiel Teil meiner Ausbildung und etwas, das die eurozentrische Perspektive in meinen Körper eingeschrieben hat. Der Körper, den ich bewohne, scheint nicht von Natur aus für die Anforderungen in diesem Kontext geeignet zu sein. Ich ertappe mich dabei, wie ich über die fortdauernde Relevanz dieser Techniken nachdenke. Mein Einstieg in die zeitgenössische Tanzausbildung war etwas unkonventionell, da ich aus dem Kampfsport komme. Ich vermute, dass ich ohne meine Kenntnisse in Martial Arts nur schwer einen Zugang zum Studium des zeitgenössischen Tanzes hätte finden können. Das wirft die Frage nach der Universalität dieser klassischen Techniken auf und danach, ob sie wirklich mit unterschiedlichen Erfahrungen und Körperlichkeiten übereinstimmen können.
In den 1990er Jahren vollzog sich in der Tanzszene ein bemerkenswerter Bewusstseinswandel, als man sich zunehmend auf die ästhetischen Möglichkeiten des Internets einstellte und interdisziplinäre Ansätze verfolgte. Diese Zeit des Wandels hat die Tanzwissenschaft nachhaltig geprägt und beeinflusst, wie wir den tanzenden Körper wahrnehmen und gestalten. Traditionell gingen Tänzer*innen ins Studio und sahen sich Spiegeln gegenüber, was ein integraler Bestandteil ihrer Praxis war. In der heutigen Zeit beobachte ich jedoch eine Tendenz zum Eintauchen in virtuelle Realitäten, bei der der Bildschirm zu einem neuen Brennpunkt für Erkundung und Ausdruck wird. Diese Entwicklung spiegelt eine dynamische Verschmelzung von Technologie und künstlerischer Praxis wider und stellt eine bemerkenswerte Abkehr von den konventionellen Methoden im Studio dar.
Deine Arbeiten experimentieren mit der Erweiterung des menschlichen Körpers. Besitzen sie ein transgressives Potenzial?
Ich finde, dass trans – in einem transformativen Kontext – eine Resonanz hat: Grenzen zu überschreiten, in einem Netz trans-verbunden zu sein und Generationen zu überspannen. In meinem künstlerischen Schaffen betrachte ich den Körper als eine Form von Monstrosität, ein Konzept, das eng mit der Integration meiner Persona in den virtuellen Raum verwoben ist. In diesen digitalen Welten nimmt die konventionelle Notwendigkeit der Abgrenzung von Körpern ab, was eine fließendere und vernetztere Erfahrung ermöglicht. Die Einführung dieses Gefühls der Monstrosität wird zu einem gewissermaßen anarchistischen Akt, der Normen in Frage stellt, die ich in meinem täglichen Leben aufgrund gesellschaftlicher Zwänge nicht unbedingt offen infrage stellen würde. Auf der Straße sind solche Äußerungen leider nicht so möglich, da Faktoren wie der Zugang zur Krankenversicherung und der wirtschaftliche Lebensstandard Einschränkungen mit sich bringen. Auch wenn ich anerkenne, dass virtuelle Räume nicht frei von Herausforderungen sind, so gibt es doch einen Raum, in dem diese Monstrosität akzeptiert werden kann, in dem sie koexistieren oder sogar die unvollkommene Natur des Körpers erweitern kann, indem sie von normativen Idealen abweicht. Dieses transformative Potenzial markiert vielleicht das Entstehen neuer Möglichkeiten und Dynamiken in der laufenden Entwicklung unseres Verständnisses und Ausdrucks des Selbst. Der Transformationspunkt wird somit zum Katalysator für die Erkundung neuer Möglichkeiten, die Koexistenz mit Unvollkommenheiten und die Neugestaltung der Narrative um den Körper und Identität in der virtuellen Welt.
Deine zweiteilige performative Installation Post Digital Bodies war Teil der Saisoneröffnung und des 25-jährigen Jubiläums des tanzhaus nrw. Die Besucher*innen bzw. Teilnehmer*innen konnten in beide Teile der Installation eintauchen. Durch ihre Aktionen veränderten sie das Geschehen und die Umgebung, sie bewegten sich und wurden bewegt. Zu was hast du die Zuschauer*innen eingeladen?
Im Rahmen von Post Digital Bodies habe ich zum ersten Mal direkt beobachten können, wie Menschen auf meine Ideen reagieren. Es hat ein so einfaches Setting, aber die Besucher*innen reagierten auf so viele verschiedene Arten. Ich wollte diese Begegnungen erleben. Während der Veranstaltungen im tanzhaus nrw sah ich auch Gruppen von Familien, junge Leute, Väter, Großmütter – und ich stellte mir vor, dass hinter den Bildschirmen Menschen vieler Altersgruppen sitzen, mit denen ich spiele; im digitalen Raum habe ich nie solche intergenerationalen Begegnungen erlebt. Das war sehr inspirierend für mich.
Vielleicht war ich auch auf der Suche nach einem Setting, in dem ich nicht die ganze Zeit die Choreografie kontrolliere. Und ich wollte einen Teil meiner Realität teilen. Oft sind virtuelle Realitäten sehr weit von der alltäglichen Realität entfernt und die Sinne beginnen auszuflippen. Ich wollte ein Set-up, das mehr mit dem Körper verbunden ist. Etwas, das im virtuellen, aber auch im physischen Raum angesiedelt ist. Ich möchte die Menschen schrittweise an den Bildschirm heranführen. Indem man hinein- und herausgehen kann; man stimmt dem Inhalt gewissermaßen mit seinem Körper zu. Ich denke, das hat eine Menge Potenzial. Dann habe ich eine Installation entwickelt, die ich als Retro-Game bezeichnen würde. Diese Technologie ist irgendwie sehr altmodisch; sie kommt aus dem Spiele-Markt, wo sie nicht mehr populär ist. Aber sie bietet eine Lösung für den Einsatz von vielen Cursors, was normalerweise sehr teuer ist.
Bei der Beobachtung des Publikums konnte ich feststellen, dass es verschiedene Faktoren gibt, die einzelne Personen beeinflussen. Ich sah, wenn etwas nicht richtig funktionierte. Wenn die Besucher*innen warten mussten, bis sich der Bildschirm aktualisierte. Als Menschen verstehen wir Computer manchmal nicht, und wir sind daran gewöhnt, dass alles schneller geht. Die Glitches und Verzögerungen sind für mich etwas Besonderes. Sie machen deutlich, wie der Computer für einen arbeitet, man muss die gleiche Sprache sprechen. In Post Digital Bodies wird das Betreten der Tanzfläche wie ein Control-Stick im Gaming behandelt. Die Leute haben vielleicht keine Vorstellung vom Gaming, aber sie haben eine Vorstellung von ihrem eigenen Körper. Ich habe die Avatare in diesem Stück nach menschlichem Vorbild entwickelt. Für mich war es das erste Mal, dass ich eine solche 3D-Umgebung geschaffen habe. Es waren zwei Monate Arbeit. Ich habe Motion-Tracking von TikTok-Tänzen aufgenommen, um sie den meta humans zu geben. meta humans sind die Zukunft eurer digitalen Ichs. Vielleicht haben noch nicht viele Leute mitbekommen, dass meta humans so angesagt sind, aber für mich ist diese Erweiterung meiner selbst in einen Avatar eine Art Alltagserfahrung. meta humans haben Superkräfte. Sie sind schneller und bieten vielfältigere Möglichkeiten der Bewegung und Mimik. Für mich sind sie Superheld*innen.
Das Game in meinem Stück hat kein Ziel – und das ist etwas, das ich während der Arbeit daran lerne. Es gibt diesen aggressiven Aspekt des Gaming, bei dem man immer etwas perfektionieren muss, um ein Level zu gewinnen. In Post Digital Bodies gibt es keine Levels, obwohl es technisch so aufgebaut ist. Aus der Sicht des Publikums geht es nur um das Tanzen. Es ist eine Gamification des Tanzes.
Auf dem Festival Temps d'Images läuft gerade dein Solostück THE DEAD CODE MUST BE ALIVE! Mich hat zunächst der Titel beschäftigt: Tod und Leben spielen ganz klar auf Biologie und Ökologie an. Worum geht es in deinem Stück?
Der Titel mag eher technisch oder geeky erscheinen. Er leitet sich von einem Konzept der Programmiersprache her, das einen Parameter impliziert, der feststellt, dass der Code inaktiv oder „tot“ ist. Normalerweise wird dieser tote Code gelöscht, aber mein Ansatz ist anders: Mein Ziel ist es, ihn zum Leben zu erwecken. In diesem Projekt existiert der Code nicht für sich allein; er ist von der Anwesenheit meines Körpers abhängig. Es handelt sich um eine Performance, die untrennbar mit der physischen Form verbunden ist. Aus dem Blickwinkel der Programmierung und der Technologie erforsche ich, wie ich den Code als dynamische Präsenz auf der Bühne strukturieren kann, wobei die Grenzen zwischen Code und Körper verschwimmen. Der Körper initiiert die Programme durch Bewegung, wobei ein Motion-Capture-Anzug verwendet wird, um das Game in Echtzeit zu simulieren. Diese Integration von Code und Körperlichkeit im Kern der Performance stellt die traditionellen Grenzen zwischen Technologie und menschlicher Gestalt in Frage. Wir übertragen die magnetischen Ausrichtungen aller Körperteile an das Spielprogramm. Dann sendet das Programm Daten an ein anderes Programm, in dem wir die Hand- und Fußgelenke oder die Schulter- und Hüftgelenke codiert haben. Wir senden diese Signale an den Motion-Capture-Anzug, um dem Programm aufzutragen, dass es ein bestimmtes Geräusch machen soll, wenn ich meine Hände hebe oder so. All das geschieht live, der Code ist also nicht voreingestellt. Es geht hauptsächlich darum, die Informationen von einem lebenden Körper in den Computer zu übertragen. Wir mussten zunächst herausfinden, welche Art von Code das tun kann. Welches Programm würde dazu in der Lage sein? Wir arbeiten seit 2022 an diesem Projekt und es ist immer noch ein Lernprozess. Wir nehmen Scheitern, Fehler, in Kauf. Misserfolge haben oft einen schlechten Beigeschmack, aber für mich erzeugen sie die wertvollsten Momente. Manchmal bricht das Programm zusammen, nach einer Weile passiert es wieder, manchmal reagiert das Programm überhaupt nicht. Wir müssen es in gewisser Weise beherrschen und den Computer und die Programme besser verstehen, um die Aufführungen durchzuführen. Technisch gesehen entsteht das Stück also durch das Motion Capturing, den Sound und die visuelle Verbindung der Körperteile.
Codes und Programmierung so als künstlerisches Material zu verstehen finde ich sehr interessant. Du sprichst aus einer „Wir“-Perspektive. Ich kann mir vorstellen, dass an diesen komplexen Produktionsprozessen viele Menschen beteiligt sind.
Ich spreche oft von „wir“, weil mein kreativer Prozess die Zusammenarbeit mit mehreren Programmierer*innen und Kollaborateur*innen beinhaltet. Ich bin überzeugt, dass die Zukunft in der Zusammenarbeit liegt; Zukünfte sind bewusst kollaborativ. Wenn ich mich umschaue und verschiedene Programme und Codes ausprobiere, wende ich mich an Leute, die sich auf diese Bereiche spezialisiert haben. Außerdem arbeite ich mit 3D-Künstler*innen zusammen, die in ihrem Umgang mit dem Körper flexibel sind, auch wenn die Integration ihres Fachwissens in den Bereich des Tanzes ihre eigenen Herausforderungen mit sich bringt. Da ich ein bekennender DIY-Mensch bin, liebe ich praktische Do it yourself-Erfahrungen. Wenn ich zum Beispiel mit Motion Tracking arbeite, gehe ich immer wieder allein ins Studio und experimentiere mit dem Motion Capture-Anzug, um seine Feinheiten zu verstehen. Entgegen den Klischees die mit Personen, die sich in Technologie vertiefen, verbunden werden, finde ich diese einsame Erkundung wichtig, um meine Ideen auszudrücken und effektiv mit anderen Expert*innen zu kommunizieren. Während für sie der Körper eine andere Welt sein mag, ist diese Praxis für mich unerlässlich, um ihr technologisches Wissen zu verstehen und einen tieferen Austausch zwischen Körper und Technologie zu fördern. Für den choreografischen Prozess lade ich 3D-Künstler*innen ein, die technisch in der Lage sind, Schnittstellen im Einklang mit meiner künstlerischen Vision zu gestalten. Im Grunde choreografiere ich nicht nur Tänzer*innen, sondern auch virtuelle Umgebungen. Diese Zusammenarbeit, ob mit 3D-Künstler*innen oder Programmierer*innen, braucht Zeit, wie beim THE DEAD CODE MUST LIVE!-Projekt, bei dem wir Fehler in Kauf nehmen und sie in etwas Sinnvolles verwandeln. Diese Zusammenarbeit ist eine herausfordernde, intensive technologische Kollaboration, die ich sehr lohnend finde. Es geht darum, Herausforderungen gemeinsam anzugehen und zu überwinden, und zwar auf eine sehr ausgefallene, detaillierte und schöne Art und Weise. Der Prozess der Zusammenarbeit mit Menschen, die oft hinter Bildschirmen arbeiten, ist ein einzigartiges Vergnügen – wir kommen zusammen, um etwas Sinnvolles zu schaffen.
Außerdem ist der Arbeitsprozess stark vom Glitchfeminismus beeinflusst, einem Konzept, das von Legacy Russell entwickelt wurde. Diese queerfeministische Perspektive, die darin wurzelt, digitale Störungen als eine Form des Widerstands anzunehmen und zu feiern, leitet unseren Ansatz, traditionelle Normen sowohl in der Technologie als auch in der Kunst herauszufordern und zu durchbrechen. Der Einfluss des Glitchfeminismus verleiht unseren kollaborativen Bemühungen eine zusätzliche Ebene der Tiefe, prägt meine künstlerische Vision und verstärkt die Bedeutung der ständigen Navigation durch das Unerwartete in meiner Arbeit.
Ich stelle mir vor, dass die Realisierung deiner Arbeit in den bestehenden Produktionskontexten und Arbeitsstrukturen eine Herausforderung darstellt, da das Umfeld sehr deutlich auf eher klassische Formen der Kunstproduktion ausgerichtet ist. Ich nehme eine Kluft zwischen progressiven und neuen Arbeiten und den damit verbundenen Praktiken und traditionell vorgegebenen Arbeitsstrukturen wahr. Was brauchst du, um gut arbeiten zu können? Wie können Institutionen deine Arbeit unterstützen?
Als Künstlerin stellt die Auseinandersetzung mit den Schnittstellen von Technologie und kapitalistischen Trends eine große Herausforderung dar. Für ist die Frage nach der Zugänglichkeit von Technologie – wer verfügt über sie und wer nicht – zentral. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach dem Zweck der Technologie – ist sie für künstlerischen Arbeiten, insbesondere für den Tanz und den menschlichen Körper, gemacht? Politisch gesehen geht das Agieren in diesem Feld über bloße Progressivität in einer digitalen Gesellschaft hinaus; es wird zu einer Aussage mit politischen Implikationen. Einige Institutionen nutzen diese Dynamik für ihre eigenen Zwecke.
Es sind in der Tat ganz andere Produktionsprozesse, denn meine Arbeiten sind virtuelle Produktionen. Was ist eine virtuelle Produktion? Es gibt viel Heimarbeit; hinter den Computern sitzen Menschen, die 24 Stunden lang arbeiten. Um künstlerisch mit Technologie zu arbeiten, braucht man Zeit und muss sich viel selbst beibringen, denn es gibt keine Universität oder so, wo technologisches Wissen und Handwerk vermittelt werden. Ich verstehe, warum viele Institutionen nicht die Kapazitäten dafür haben, aber sie versuchen es trotzdem. Was die Infrastrukturen anbelangt, zum Beispiel Proberäume: Ich brauche nicht regelmäßig ein Studio. Trotzdem möchte ich nicht auf die Möglichkeit, einen Raum zu nutzen, verzichten. Ich gehe nur ins Studio, wenn es notwendig ist. In der allerletzten Phase des Prozesses. Es gibt ein oder zwei Monate, in denen ich zu Hause oder an anderen Orten arbeite und Dinge ausprobiere. Trotzdem ist es manchmal notwendig, beides gleichzeitig zu haben. Einen hybriden Raum, in dem man Dinge physisch und technologisch testen kann. Und es ist verrückt, all diese Computer mit ins Studio zu bringen und eine Art Techno-Zentrale in einem Tanzstudio aufzubauen. Ich muss in den Techniker*innen-Modus wechseln, weil die Techniker*innen eines Theaters meistens nicht wissen, wie es funktioniert. Als Künstler*in kann ich das machen – aber ich will (muss) das nicht immer machen. Dann gehe ich an die Orte, wo die Arbeitsbedingungen besser sind.
Ich denke, die Frage, die sich Institutionen heutzutage stellen, wenn sie sich mit neuen Technologien beschäftigen wollen, ist, wie sie den Kuchen aufteilen. Wir müssen über neue Infrastrukturen nachdenken. Tanz zu kreieren ist nicht mehr nur im Studio möglich. Wenn ich von digitalem Tanz spreche, dann meine ich nicht das Streaming von Tanz im Internet, sondern eine andere Art des Umgangs mit digitaler Technologie. Wenn man diese Entwicklungen ins Theater bringen will, muss man auch die Infrastruktur des Personals und des Equipments verändern. Das ist nicht angenehm. Aber es sollte einen Austausch zwischen digitalen Künstler*innen und Institutionen darüber geben, wie man damit umgeht. Künstler*innen, die oft weit vorne im Feld des kreativen Experimentierens stehen, können neue Perspektiven und praktische Erfahrungen einbringen. Gleichzeitig können die Institutionen Ressourcen, Mentor*innenschaften und strukturierte Lernumgebungen bereitstellen. Durch diese Zusammenarbeit entstünde ein dynamischer kultureller Austausch, bei dem Künstler*innen und Akteur*innen von der institutionellen Unterstützung und dem Zugang zu technologischen Ressourcen profitieren, während die Institutionen Einblicke in aktuelle künstlerische Praktiken erhalten. Dieser wechselseitige Lernprozess erleichtert nicht nur die Integration von Technologie in künstlerische Produktionen, sondern auch die Produktion von Performing Arts insgesamt.
Digitale Technologien entwickeln sich ständig und schnell weiter. Das Allgemeinwissen beschränkt sich hier oft auf VR-Brillen und Motion Capturing. Gibt es ein (neues) Tool, das für dich derzeit spannend ist? Wofür interessierst du dich gerade besonders?
Im Moment konzentriere ich mich sehr auf die Gaming-Communities und erforsche sie. Technisch gesehen bin ich sehr erstaunt, wie sich alles rund um die Spieleindustrie entwickelt – aber ich bin nicht daran interessiert, in diese Industrie einzusteigen. Für mich geht es darum, Kontakte zu knüpfen, mit verschiedenen Menschen auf der ganzen Welt zu spielen, Gemeinschaften zu entdecken, in denen ich mich wohler fühle als in einer face-to-face Situation. Die Technologie, die für Spiele entwickelt wird, ist sehr faszinierend und hat so viel Potenzial, was Bewegung angeht. Im Moment experimentiere ich viel mit Vive-Trackern, das sind Game-Controller, die man eigentlich nur in der Hand hält. Der Tracker sendet die Signale ortsbezogen. Obwohl er Dinge im virtuellen Raum auslöst, wird die Aktion dadurch wieder im physischen Raum verortet. Das funktioniert auch mit VR-Brillen. Allerdings frage ich mich, ob ich derzeit überhaupt mit VR-Brillen für Publika arbeiten möchte. Ich denke, es muss sich noch etwas entwickeln, bis ich 20 VR-Headsets kaufe. Ich bin nicht in solchen privilegierten Strukturen aufgewachsen, wo man einfach die Hand heben und nach 20 VR-Brillen fragen kann. Ich muss mir über den Grund sehr klar sein. Dafür, dass Publika etwas erleben? Ja und gleichzeitig nein. Wozu genau? Für mich ist wichtig, wie man Dinge zugänglich machen kann. Motion-Capture-Anzüge zum Beispiel sind nicht für jede*n geeignet. Sie setzen immer zwei Hände und zwei Beine voraus. Für dieses Solo habe ich versucht, einen Motion-Capture-Anzug zu entwickeln, den anatomisch gesehen jede*r benutzen kann. Gleichzeitig muss der Anzug für meine künstlerischen Ideen geeignet sein. Da ich mich mit Technologie auskenne, behandle ich sie so, wie ich es möchte. Das ist sehr empowernd. Weil ich die Technologie sozusagen in den Händen halte, kann ich sie in Frage stellen.
Digitale Technologie und das Programmieren werden oft als eine Domäne weißer – „nerdiger“, „genialer“ – Männer wahrgenommen. Obwohl die Geschichte uns anderes lehrt. Du bist von cyber- und queerfeministischen Diskursen und Aktivismus inspiriert und reflektierst deine Arbeit im Kontext der vorherrschenden patriarchalen und heterokolonialen Regime.
Gerade wegen dieser Bilder von weißen, männlichen Programmierern glauben die Leute nicht, dass ich hinter diesen Ideen und Produktionen stehe, wenn sie mich schließlich persönlich treffen. Die Leute fragen, ob ich das wirklich mache. Es scheint schwer zu sein, mich mit der Vorstellung einer Führungsperson in Einklang zu bringen. Ich bin nicht auf der Suche nach einer Machtposition, aber meistens wird das so verstanden. Für mich ist es wichtig, Queerness in das Netzwerk zu bringen, da es immer noch sehr heteronormativ ist. Es kann schwierig sein, intersektionale digitale Künstler*innen zu finden, vor allem, wenn man nach vielfältigen Stimmen und Perspektiven im digitalen Bereich sucht. Der Mangel an nicht-binären Menschen, die Tutorials unterrichten, trägt zu einem sich wiederholenden Narrativ bei, das von einer bestimmten Gruppe dominiert wird. Meine Ermüdung, ständig Anleitungen aus einer weißen, männlichen Perspektive zu erhalten, bestätigt, wie wichtig die Diversifizierung der Stimmen in der digitalen Landschaft ist. Sichtbarkeit wird zu einem kritischen Thema; der Akt des Teilens von Wissen, wenn es einmal erworben wurde, und dies ebenfalls über das Internet oder andere Umgebungen, wird zu einem Mittel, um Barrieren abzubauen. Meine Erleichterung über die Entdeckung einer queeren digitalen Community zeigt, wie wichtig es ist, Räume zu schaffen, die Inklusion und Freiheit hinter dem Bildschirm fördern, insbesondere angesichts der historischen Misshandlung und einseitigen Repräsentation von Körpern. Viele BIPOC-Programmierer*innen und –Gamer*innen entscheiden sich dafür, unsichtbar zu bleiben, was eine berechtigte Entscheidung als Reaktion auf Mikroaggressionen und rassistische Erfahrungen in einem technokapitalistischen System darstellt. Dieses Narrativ aktiv zu verändern, ist eine große Herausforderung. Ich sorge mich um die Transformation des Körpers im digitalen Raum, und denke darüber nach, ob wir uns selbst als „Cyborgs“ oder als „Cyborg-Ghetto-Personen“ darstellen sollen, indem wir von unserer eigenen Identität erzählen. Obwohl die digitale Gemeinschaft sich gegenseitig unterstützt, wenn es darum geht, Arbeit füreinander zu finden, bleibt die Herausforderung bestehen, Menschen mit dem nötigen Fachwissen zu finden. Für mich ist es dabei wichtig mit Akteur*innen zusammenzuarbeiten, die den cyborg-queerfeministischen Aspekt von meiner Arbeit mindestens anerkennen.
Durch die Bewältigung dieser Komplexität birgt das Internet ein erhebliches Potenzial für den Abbau von Stereotypen und die Förderung einer integrativeren und repräsentativeren digitalen Landschaft. Eine „Cyber-Ghetto-Persönlichkeit“ bezieht sich in der Regel auf eine Online-Identität oder -Präsenz, die mit einem weniger privilegierten, marginalisierten oder subkulturellen Kontext innerhalb des digitalen Raums in Verbindung gebracht wird. Der Begriff „Ghetto“ weist in diesem Zusammenhang Parallelen zu realen städtischen Gebieten mit niedrigerem sozioökonomischem Status auf, die oft durch begrenzte Ressourcen und Möglichkeiten gekennzeichnet sind. Im Online-Raum kann eine Cyber-Ghetto-Persona Eigenschaften, Stile oder Interessen verkörpern, die einer Subkultur oder Online-Gemeinschaft entsprechen, die als weniger etabliert oder wirtschaftlich privilegiert wahrgenommen wird. Es ist wichtig zu beachten, dass der Begriff „Cyber-Ghetto-Persona“ je nach dem spezifischen Kontext, in dem er verwendet wird, unterschiedliche Konnotationen und Interpretationen haben kann.
Brigitte Huezo (they/them*) ist post-digitale Choreograf*in, Tänzer*in und Performer*in. They arbeitet an der Schnittstelle von Technologie, Gaming, 3D Design, Film und Fashion. Huezo studierte Zeitgenössischen Tanz an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und erhielt dafür Unterstützung vom DAAD und anderen Stiftungen.
Die Fragen stellte Lucie Ortmann.