Backstage mit Ben J. Riepe

Portrait von Ben J. Riepe

Die beiden Wörter im Titel deiner neuen Produktion EVER|RÊVE können vorwärts und rückwärts gelesen werden. Sie eröffnen ein Feld von Bedeutungen zwischen Ewigkeit und Traum. Wie bewegt sich EVER|RÊVE zwischen Wachheit und Schlaf, Wahrnehmen und Verarbeiten von Erlebtem, Zeit und Ewigkeit?

Für die Arbeit an EVER|RÊVE waren Überlegungen dazu, was außerhalb unserer Welt existiert, ein Ausgangspunkt für mich. Ich meine damit außerhalb der logischen Welt mit Wissenschaft und Kognition und Verstand. Mein Eindruck ist, dass wir innerhalb dieser Kategorien gerade an bestimmte Grenzen stoßen. Das zeigt sich in den vielen verschiedenen Krisen, in denen wir nicht wirklich zu Lösungen kommen. Da ich aus dem Tanz komme, beschäftige ich mich viel mit Erleben, mit sinnlicher Wahrnehmung oder eben auch mit unbewussten und körperlichen Erfahrungen. Mich interessiert in dem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit Phänomenen, die nichts mit den gewohnten Tages- und Zeitrhythmen zu tun haben, beispielsweise mit unseren Träumen. Ich frage mich, ob wir im Traum auf Welten stoßen, denen wir viel mehr Aufmerksamkeit schenken sollten.

Du bezeichnest dein neues Stück als Musiktheater-Performance. Musik spielt in deiner Arbeit eine wichtige Rolle. Was wird in solchen Crossover-Projekten möglich?

In EVER|RÊVE führe ich meinen interdisziplinären Ansatz noch ein Stück weiter. Schon lange gehe ich in meinen Arbeiten vom Körper aus. Für Tanz brauchen wir erstmal nichts anderes als den Körper. Und mich interessieren alle Möglichkeiten dieses Körpers und alles, was aus dem Körper herauszubekommen ist: Bewegungen, Gedanken, Geräusche, Sprache, Gesang und wie dieser Körper im Raum steht. Licht, Räume und Atmosphären sind für mich alles Materialien, die choreografierbar sind. Gesang und Musik sehe ich als sehr eng mit dem Körper verbunden, ganz ähnlich zur Bewegung. Das sind alles Elemente, die uns auf einer unmittelbaren, nonverbalen Ebene berühren und uns direkt ansprechen. Das ist eine Ebene, die wir erstmal nicht unbedingt benennen können. Daher sehe ich Musik als ein Medium, das Menschen sehr direkt ansprechen kann und das ich daher gerne für meine Arbeiten nutze.
In dem neuen Stück arbeite ich mit der isländischen Komponistin Bára Gísladóttir zusammen. Von Beginn an war es unsere Idee, nicht nur zu choreografieren, sondern auch zu komponieren. Dazu haben wir dann auch das Ensemble gemischt, sodass wir zum einen mit Tänzer*innen arbeiten, die viel Gesangserfahrung haben, und gleichzeitig mit Sänger*innen kooperieren, die viel szenische Erfahrung mitbringen. Auf diese Weise und mit diesem Cast können wir Choreografie und Komposition neu miteinander verschränken. Bára schreibt die Musik teilweise direkt für die Performer*innen und ich choreografiere sie. Mit Bára kommt eine ganz andere Expertise dazu und eine andere Art und Weise, Dinge zu denken.

Wie hast du Bára Gísladóttir kennengelernt und was begeistert dich an ihrer Musik?

Wir haben uns im Rahmen der Arbeit an dem Musiktheaterprojekt Beginn an der Staatsoper Hannover kennengelernt. Bára wurde eingeladen, die Musik zu machen und ich wurde engagiert, um als Regisseur und Choreograf zusammen mit Bára, Orchestermusiker*innen und dem Solistenensemble Kaleidoskop zu arbeiten. Ich fand Báras Musik interessant und habe die Zusammenarbeit wie in einem Blind Date einfach zugesagt. So haben wir uns kennengelernt - das war einfach ein Lucky Punch. Wir haben uns von Anfang an sehr gut verstanden.
Ihre Musik würde ich als sehr sphärisch beschreiben. Sie arbeitet viel mit einzelnen Tönen, die sich komplex verschieben. Es gibt dabei eigentlich nie eine erkennbare Melodie, sondern sehr lange Töne mit Obertönen, die eine Reibung verursachen. Dadurch wird der ganze Bühnenraum in eine Vibration versetzt. Die Körper fangen an zu vibrieren und in dieser fast monotonen Musik scheinen auf einmal tausende weitere Töne auf. Ich finde das sehr faszinierend, weil alles so reduziert ist und gleichzeitig so ästhetisch und klar. Es macht wirklich etwas mit dem Körper. Wenn man ihre Musik länger hört, kommt man in einen Rausch.

Was erwartet das Publikum? Und für wen ist das Stück?

Das Publikum erwartet so eine Art Traum-Rausch-Erfahrung. Das Wort rêve bedeutet Traum und das Publikum geht auf eine Reise durch Traumbilder und imaginäre Realitäten. Durch die Musik von Bára kommen Momente von Ekstase hinzu, die eine Erfahrung ermöglichen, die jenseits vom rationalen Verstehen liegt und den eigenen Prozess der Wahrnehmung spürbar machen. Auf visueller Ebene entsteht ein Bilderrausch, über den sich Traumwelten und Traumlogiken vermitteln.
Ich versuche, das Stück so zu bauen, dass man zum Anschauen keinen theoretischen Überbau benötigt und kein großes Wissen über Tanz und Performance. Ich möchte, dass das Stück unmittelbar über die körperliche Ebene zugänglich ist. Dadurch richtet es sich an alle, die dazu bereit sind, sich auf eine Erfahrung einzulassen, in der es nicht in erster Linie darum geht, etwas zu verstehen, sondern etwas zu erleben.

Zuletzt warst du im Jahr 2020 mit der transmedialen Oper GESCHÖPFE zu Gast im tanzhaus nrw. Wie schließt EVER|RÊVE an frühere Arbeiten an?

An GESCHÖPFE knüpft die neue Arbeit in Bezug auf die Art und Weise an, Bilder zu inszenieren. Auf der Bühne wird wie schon bei GESCHÖPFE ein schwarzer Raum entstehen, der allerdings so dunkel und schwarz ist, dass er eigentlich gar nicht existiert. Es wird nicht klar, wo er anfängt und wo er aufhört. Dieser dunkle Raum bildet den Ausgangspunkt für bestimmte Traumwelten. In Bezug auf den Einsatz von Musik knüpft EVER|RÊVE auch an GESCHÖPFE an, geht aber in der Musik, die eigens für das Ensemble aus Sänger*innen und Tänzer*innen komponiert wurde, noch einen Schritt weiter.

In der Zwischenzeit habe ich auch das Stück The Patient gemacht, in dem die Performer*innen sich sehr genau mit ihrem körperlichen Erleben von Sound auseinandergesetzt haben. Daran knüpfen wir an.

Du arbeitest mit einer Gruppe junger Tänzer*innen und Sänger*innen. Das Stück stellt Fragen nach der Zukunft von Gesellschaft und Gemeinschaft. Gerade junge Menschen sehen sich mehr und mehr konfrontiert mit der Zukunft als Alptraum: Obszöner Reichtum konzentriert sich in immer weniger Händen, Unternehmen haben mehr Macht als jemals zuvor, politische Systeme zerfallen, Faschismus verbreitet sich überall auf der Welt und wir stehen vor dem Klimakollaps. Denkt ihr in eurem Arbeitsprozess gemeinsam über Zukunft nach?

Ja, absolut. Mit vielen der Performer*innen, die in der Produktion sind, kollaboriere ich schon eine Weile. Wir haben während der Pandemie und unter Pandemiebedingungen gearbeitet und in dieser Zeit viel über diese Themen gesprochen.

Wir haben gemeinsam im Wald geprobt, das Waldsterben hautnah erlebt und dabei unser eigenes gestörtes Verhältnis zur Natur erforscht. Wie haben uns die Frage gestellt, wie körperbasierte Praktiken wie Atemtechniken und Meditation das Verhältnis zu uns selbst und schließlich zur Natur positiv verändern können. Wir haben die Schule des Erlebens gegründet und Summer Schools veranstaltet, in denen es thematisch um alternative Zukünfte ging und um die Auseinandersetzung damit, was wir tatsächlich brauchen. Wie fühlt sich mein Körper eigentlich an? Wie gehe ich mit mir selber um und wie kann ich besser mit mir und meinen Mitmenschen umgehen? Darüber gibt es einen starken Austausch innerhalb des Teams. Für mich ist es auch deshalb so interessant, mit jungen Menschen zu arbeiten, weil ich sehr viel von meinen Performer*innen lerne. Zum Beispiel lerne ich viel darüber, wie sie sich mit Diversität, Queerness und Identität auseinandersetzen. Das sind Themenbereiche, die ich selber in meiner Jugend gar nicht so erleben konnte und spannende Felder, denen ein junges Team eine ganz andere Offenheit entgegenbringt.

In deiner Arbeit spielt der genaue Umgang mit verschiedenen Wahrnehmungsebenen eine wichtige Rolle. Die Körper auf der Bühne, der Einsatz von Licht und Musik kommen in einer vielschichtigen Montage zusammen, in der sie sich beständig überlagern, subtil verschieben und immer weiterentwickeln. Wie entstehen solche Szenen im Probenprozess?

Wir beginnen die Probe oft damit, dass wir gemeinsam am Tisch sitzen und uns darüber austauschen, was uns gerade interessiert. Wir versuchen dann, bestimmte Themen einzukreisen. Aus einer thematischen Auseinandersetzung gehen wir dann in eine Improvisation. Für eine der letzten Proben habe ich einen Traum von mir aufgeschrieben, dessen Inhalt ich für das Stück wichtig fand. Das habe ich vorher noch nie gemacht.

Wir haben meinen Traum dann auf der Probe gemeinsam gelesen und uns viel über Träume ausgetauscht und uns die Frage gestellt, wie wir auf szenischer Ebene diese Traumwirklichkeiten erfahrbar machen können. Wie können wir solche Bilderwelten, das Assoziative und Unlogische darstellen? Um das auszuprobieren, haben wir dann den Proberaum verdunkelt und haben verabredet, dass wir alle für 20 Minuten schlafen, um dann aus diesem Zustand des Schlafens und Aufwachens direkt in eine Improvisation zu gehen. Die Probe ist also wirklich ein multimediales Brainstorming, in dem wir recherchieren, uns gegenseitig Dinge aus dem Internet zeigen, gemeinsam einen Text oder eine Buchpassage lesen. Daraus entwickeln wir dann Strategien, von denen wir uns irgendwo hinführen lassen. Was wir spannend finden, behalten wir bei, und alles andere wird verworfen.
In der ersten Probenphase gilt also lediglich die Regel, dass wir alles ausprobieren. Es ist wichtig, nichts zu beurteilen, sondern die Sachen wirken zu lassen. Manches sagt einem im gegenwärtigen Moment nichts, aber es führt später zu einem anderen Gedanken oder zu einem anderen Gefühl. Dann entsteht plötzlich etwas, das wir alle überhaupt nicht erwartet hatten.
Später im Prozess ist dann das Choreografieren von Atmosphären wichtig für mich. Ich mache mir während der Probe viele Notizen und arbeite viel mit meiner Erinnerung. Gleichzeitig zeichnen wir die Probe aber auch immer auf, sodass wir Spontanes, das aus einem Gefühl heraus oder aus der Intuition heraus entstanden ist, verstehen und in eine Szene bauen können.

Wir leben in einer Kultur, in der durch digitale Medien alles immer wieder kommt. „Christiancore“ ist ein Internettrend, der sich aus christlicher Ikonographie inspiriert. Bei dem Trend werden christliche Symbole umgedeutet und christliche Traditionen unterlaufen, um sich von ihnen zu befreien. Weiße Krägen und kirchlich anmutende Roben sind Kostümelemente, die du gerne nutzt. Welche Rolle spielen Tradition und Spiritualität in deiner Arbeit und in Bezug zur Frage nach Zukunft?

Was mich beschäftigt, ist die Beobachtung, dass wir beispielsweise Musik oder Mode aus den 1970er oder 1980er Jahren ohne Schwierigkeiten dem jeweiligen Jahrzehnt zuordnen können. Seit den 2000er Jahren ist das nicht mehr so. Wir können nicht einordnen, ob ein Song aus den 2000er Jahren oder den 2010er kommt. Wir können das nicht mehr sortieren. Gleichzeitig kommt alles immer wieder und wird neu verwertet. Innerhalb des Turbokapitalismus, in dem wir leben, dreht sich alles immer schneller, es gibt keine Jahrzehnte mehr, die sich klar voneinander unterscheiden lassen, sondern alles wird ständig geremixed und neu zusammengemischt. Somit werden auch Symbole ständig umgedeutet in einer Bewegung, die immer schneller wird. In diesem Zusammenhang interessieren mich Bilderwelten und das visuelle Erleben sehr. Ich glaube, dass das Visuelle eine viel größere Kraft hat als beispielsweise das gesprochene Wort. Wir leben in einer extrem visuellen Gesellschaft. Alles übermittelt sich über Bilder und interessanterweise begegnet uns ja auch der Traum als Bild. Im Rahmen von EVER|RÊVE interessiert mich die Umdeutung von Symbolen auch in Bezug auf die spekulative und visionäre Frage nach der Zukunft und nach dem, was kommen könnte. Was für eine Welt erwartet uns möglicherweise? Was passiert, wenn der Turbokapitalismus immer weiter läuft oder unter den ganzen Krisen alles einmal zusammenbricht? Welche Fähigkeiten brauchen wir dann? Ich glaube, dass die Fähigkeit, den eigenen Körper zu erleben und auf eine Art und Weise wahrzunehmen oder zu denken, die nicht rational ist, sondern körperlich, hilfreich sein kann.

Du arbeitest schon seit vielen Jahren als freischaffender Choreograf. Und doch ist jeder Probenprozess anders und besonders. Was hast du an der Arbeit an EVER|RÊVE gelernt?

Wenn ich ein neues Stück mache, habe ich oft den Eindruck, dass ich eigentlich beständig an ein und demselben Stück arbeite und dabei immer ein bisschen weiter gehe. Dabei lerne ich ständig etwas Neues und erschließe mir einen anderen Teil einer bestimmten Wirklichkeit, eines Forschungsfelds oder eines Handwerks. Manchmal realisiere ich dann, dass ich etwas geschafft habe, was ich eigentlich schon eine ganze Weile versucht habe, ohne dass es mir so ganz klar war. In der Arbeit an EVER|RÊVE sind für mich weitere Aspekte innerhalb des Feldes dazu gekommen, wie Musik, Tanz und Wahrnehmung tatsächlich zusammenwirken und wie ich einen Bilderrausch herstellen kann. Darüber habe ich in diesem Stück viel gelernt.

Das Gespräch führte Philipp Schaus.

Ben J. Riepe, Jahrgang 1979, ist Choreograph, Künstler und Initiator des FREIRAUMs, einem interdisziplinären Konzeptions- und Arbeitsort für die Künste und Wissenschaften, der eine kollaborative, unkuratierte Arbeitsweise erprobt. Nach seinem Studium des Bühnentanzes und der Choreographie an der Folkwang Hochschule war Riepe als Tänzer u.a. bei Pina Bausch und V.A. Wölfl engagiert und kreiert seit 2008 eigene Arbeiten, die den Tanz mit anderen Disziplinen in vielschichtige Verbindung bringen. Seine mehrfach ausgezeichneten Performances, Videos und digitalen Produktionen werden weltweit gezeigt, häufig in Kollaboration mit dem Goethe Institut oder auf Einladung anderer Kompanien.

Philipp Schaus arbeitet seit 2020 als Dramaturg am tanzhaus nrw.

 

 

Drei Performer*innen in weißen Gewändern mit weißen Hauben liegen auf dem Boden

Ben J. Riepe | Bára Gísladóttir

EVER|RÊVE
05.05. + 06.05.