Backstage mit Benze C. Werner
In circa einem Monat kommt dein neues Stück LP, entwickelt mit Musiker*in und Produzent*in Ley Ghafouri, am tanzhaus nrw zur Uraufführung. LP vernetzt Tanz, Performance und Konzert. Welche Rolle spielen Sound und Musik in deiner choreografischen Arbeit?
Musik ist häufig der direkte Ausgangspunkt für mich, tänzerisch und choreografisch zu arbeiten. Musik wirkt sehr direkt auf meinen Körper. Zum einen spüre ich Sounds wie Bässe in meinen Knochen, unter der Haut, in meinem Fleisch. Und zum anderen habe ich eine enorme emotionale Verbindung zu Sound und Musik. Auch diese Emotionen stellen eine direkte körperliche Verbindung für mich her. Und darin sehe ich ihr Potenzial in der künstlerischen Arbeit. Emotionalität wird im zeitgenössischen Tanz oft nicht ernst genommen – hier stehen Konzepte, technischer Perfektionismus und Ästhetik im Zentrum. Ich erlebe Emotionen physisch und als etwas, das ‚raus muss‘. Bewegung ist die Form, es ‚rauszubringen‘. Choreografie ist für mich eine Gefühlsreise, etwas, was sich von A nach irgendwohin bewegt und diese Bewegung meine ich nicht unbedingt visuell. Aus der konkret tänzerischen Perspektive gedacht: Was ist der innere Score? Mir ist es nicht wichtig, dass das Publikum jede kleine Bewegung sieht, sondern dass es mit diesem Gefühl mitschwingt, das ich selbst in mir trage und das in meiner Choreografie zum Ausdruck kommt.
Es geht also stark um sinnliche Wahrnehmung. Mit LP kreierst du, so der Ankündigungstext, eine Landschaft, die zum Wegdriften einlädt. Kannst du genauer beschreiben, was für ein Format ihr hier entwickelt?
In LP arbeite ich zum ersten Mal mit einem komplexeren Raumkonzept, was neben dem Sound ein weiteres Experimentierfeld aufmacht. Bühnenbild, Licht, Bewegung im Raum und Lyrics ergänzen sich in diesem Stück. Ich denke sehr viel über Atmosphären und die umfassende Erfahrung von Situationen nach. Was mich an Performing Arts so reizt, ist als zuschauende Person in eine Situation eingeladen zu werden, um etwas zu erleben oder an etwas teilzuhaben. Das beinhaltet den sozialen Aspekt von Aufführungen. Daher experimentiere ich mit der Anordnung von Zuschauer*innen und Performance. Das ging bei Neon Serenade, das ich im Studium erarbeitet und 2024 bei Now&Next am tanzhaus nrw gezeigt habe, mit einer Anordnung los, in der das Publikum 360 Grad um die Bühnenfläche herum platziert war. Wie können wir eine Situation schaffen, die eine Resonanz zwischen Performer*innen und Publikum herstellt? Ich finde persönlich, dass das bei Konzerten sehr stark passiert. Mit LP starte ich die Suche nach Formaten, die es möglich machen, Aspekte aus Konzerten in eine Tanzperformance zu übertragen. Das ist mit Scheitern und Ausprobieren verbunden. Räume für Tanz und Theater sind mit anderen ungeschriebenen Regeln belegt als Konzerte. Ich versuche in jedem Fall, mich anders mit den Personen, die vor Ort anwesend sind, zu verbinden und offen in eine Situation zu treten.
Was ich an Konzerten außerdem spannend finde, sind die unterschiedlichen Zeitlichkeiten des Publikums, die nebeneinander existieren: zwischen Ankommen, Getränk holen, dann nochmal auf Toilette gehen, Jacke abgeben, und wieder vor der Bühne stehen. Warten. Am Anfang spielt vielleicht noch eine Vorband, dann kommt erst der Main Act und schließlich passiert noch was ganz Anderes am Abend.
In dieses Experimentieren mit Formen der Aufführung gehört für mich, dass du dich mit einem Konzept wie Relaxed Performance beschäftigst, das ursprünglich von der Autismus-Community entwickelt worden ist, um für sie Veranstaltungen barriereärmer zu gestalten. Relaxed Performances hinterfragen eingeübte Regeln und Verhaltensweisen rund um den Ablauf von Aufführungen.
Genau. Es geht mir dabei um die Frage, wie eine Aufführung wirklich andere Wahrnehmungsmodi möglich machen kann. Mich interessiert, eine Arbeit zu schaffen, wo es möglich ist, dass du trotz Zugverspätung ohne ein schlechtes Gefühl in eine Tanzperformance eintreten kannst oder wo du währenddessen auf Toilette gehen kannst und nichts aushalten musst, weil du nicht stören willst. Wenn mich zum Beispiel eine Tanzperformance vorrangig musikalisch anspricht, vielleicht ist es dann okay, dass ich mich hinlege und die Aufführung mit meinen Ohren genieße. Ich hätte gerne so einen Raum, wo das möglich ist, ohne dass dies als respektlos gegenüber den Performer*innen auf der Bühne gelesen wird. Das schafft eine andere Zugänglichkeit, andere Möglichkeiten, einem Stück beizuwohnen.
Der Titel LP lässt mich an Alben und eine kuratierte Reihenfolge von Songs bzw. Musikstücken denken. Verweist der Titel auf eine mögliche Dramaturgie oder einen Ablauf eures Stücks? Gleichzeitig schwingt für mich in der Referenz auf Vinyl-Schallplatten etwas Anachronistisches mit.
Interessant. Dieser Verweis auf historische Abspielgeräte spielte bei uns gar keine Rolle. Wenn ich ein Album auf meinem Handy anhöre, gibt es die Möglichkeit, Songs auszulassen, zu überspringen. Und es gibt meine Lieblingstracks in Alben, die ich on repeat höre und diese zwei, drei Tracks, die sind nice, aber ich will eigentlich zum vierten, weil das dann wieder ein Lieblingstrack ist. So entsteht dieses Skipping. Die Dramaturgie bezieht sich also nicht auf eine festgelegte Reihenfolge, sondern es geht genau darum, deinen eigenen Weg durch das Album zu finden. Ausgeschrieben bezieht sich Long Play auf Assoziationen rund um Sex und lesbische Sexualität oder auch einfach auf das Lesbischsein – a Lesbian Play eben.
LP entsteht in Kollaboration mit Ley Ghafouri und Guests. Wie arbeitet ihr zusammen?
LP ist meine dritte Zusammenarbeit mit Ley. Das ging ziemlich klassisch los, dass Ley den Sound für mein Stück Reverse Cowgirl entwickelt hat. Das war meinerseits ein klarer Auftrag an Ley, ich wusste bereits was ich will. Bei Neon Serenade hat Ley den Entwicklungsprozess und die Proben punktuell begleitet, die Musik wurde aber ausgehend vom tänzerischen Material produziert. Hier ging es bei mir mit der Sehnsucht los, Choreografie/Performance und Sound gleichzeitig im Studio zu entwickeln, so dass sich Bewegung auf die Musik einlassen kann und nicht nur anders herum. LP ist unser erster Arbeitsprozess, in dem wir mit Live Sound Setups im Studio arbeiten und Tanz und Bewegung gleichzeitig entstehen. Wir arbeiten aber auch unabhängig voneinander, um dann wieder zusammenzukommen. Dadurch hat sich die Arbeitsbeziehung von Ley und mir verändert. Bei Reverse Cowgirl waren die Verantwortlichkeiten klar. Im momentanen Probenprozess von LP gebe ich als Projektverantwortliche Ideen und Meinungen sowohl von Elin als auch von Ley sehr viel Raum. Wir handeln das ständig neu aus. In vorherigen Prozessen habe ich mich oft alleine gefühlt und bin gewisser Maßen in meiner eigenen Welt geblieben, ich wusste, in welche Richtung es geht. Aber es ist so spannend, was andere in Reaktionen auf deine Gedanken, Worte, Visionen für Ideen haben und was sie daraus machen. Dadurch wird eine Idee viel größer und komplexer.
Und wer sind die Guests?
Die Guests sind zum einen das ganze Team rund um LP. Und zum anderen stehen die Guests für die Stimmen der vielen Personen, die wir im Prozess und in den Archiven getroffen haben – deren Worte und Gedanken unsere Arbeit geprägt und mitgeformt haben.
Du hast für dieses Stück in den Lesbian Herstory Archives in New York recherchiert. Wie kam es dazu?
Ich habe mich eine Zeitlang in die Essays von Joan Nestle zur Butch-Fem-Kultur und lesbischen Beziehungen vertieft und bin dabei darauf gestoßen, dass sie die Lesbian Herstory Archives mitgegründet hat. Ich fand es bezeichnend, dass ich nie davon gehört hatte. Ein Recherchestipendium des Goethe Instituts hat es Ley und mir ermöglicht, das Archiv zu besuchen. Abgesehen von der Einreise in die USA mit Ley, die kompliziert war, war es eine wichtige Erfahrung für mich, in diesem Archiv zu arbeiten und Kontakt mit den Akteur*innen dort aufzunehmen. Das Archiv befindet sich in einem ehemaligen Wohnhaus, was von Privatpersonen gekauft wurde, die einfach angefangen haben, dort Geschichten zu sammeln, zu pflegen und aufzubewahren. Ohne eine Auswahl zu treffen. Dieses Archiv lesbischer Kultur und Geschichte ist also unfassbar komplex. Es gibt zum Beispiel einen großen Teil zu radikalfeministischen Bewegungen in den 1980er und 90er Jahren und es werden unterschiedliche Strömungen dokumentiert. Radikalfeministisch meint, lesbisch zu sein, hat politische Implikationen. Es gibt Positionen, wie diese, von denen ich mich distanziere oder denen ich kritisch gegenüberstehe. Mit Saskia Scheffer, einer Koordinatorin des Archivs, habe ich viel darüber gesprochen, zum Beispiel über separatistische Frauengruppen in den 1980er Jahren, die aus heutiger Perspektive problematisch sind, da sie trans* Personen ausschließen und auch Butch-Fem-Beziehungen als patriarchal und gewaltvoll kritisieren. Und trotzdem haben diese separatistischen Frauengruppen einen sehr großen Beitrag zu dem geleistet, wo wir heute gesellschaftlich und rechtlich stehen. In diesem Archiv habe ich gelernt, Unterschiedlichkeiten, diese Komplexität, besser auszuhalten und bestimmten Dingen mehr Respekt zu zollen. Das war eine herausfordernde und beeindruckende Erfahrung. Das hat etwas in mir aufgebrochen. Nicht sofort in eine Abwehr- oder Kritikhaltung zu verfallen, hat Gespräche auf Augenhöhe ermöglicht. Ich glaube, dass dies in der heutigen politischen und gesellschaftlichen Gegenwart besonders wichtig ist. Saskia und ich sprachen auch über die berühmten Gräben linker Bewegungen. Im nächsten Atemzug sagte sie, dass sie nicht versteht, warum wir uns über Pronomen und Selbstbezeichnungen streiten. Ihrer Meinung nach verlieren wir dadurch das große Ganze aus dem Blick – unsere gemeinsame Befreiung. Sie meinte, wir sollten statt über Pronomen zu streiten, auf unsere Körper und deren materielle Bedürfnisse hören und dafür kämpfen. Ich erinnere mich an ein Gefühl des Aufbäumens in mir. Ich war nicht einverstanden mit dem, was sie sagte. Aber in diesem Moment habe ich mich – aus einem schwer zu erklärenden Impuls heraus – entschieden, weiter zuzuhören und verstehen zu wollen, anstatt sofort dagegen anzugehen. Ich habe verstanden, dass sie aus einer anderen Position spricht, mit einer anderen Geschichte und anderen Erfahrungen, und ich wollte begreifen, was sie meint. Sie kämpft ihr ganzes Leben für Frauenrechte und die Dinge, für die sie früher schon gekämpft hat, sind immer noch nicht eingetreten – die Schließung des Gender Pay Gaps, körperliches Selbstbestimmungsrecht, und so weiter. Dieses Gespräch mit Saskia und auch die Struktur des Archivs selbst waren für mich eine prägende Erfahrung im Aushalten von Widersprüchen. Denn wie jede andere Geschichte ist auch lesbische Geschichte widersprüchlich und vielschichtig. Joan Nestle hat das Archiv als einen Ort beschrieben, an dem die Geschichten aller Frauen Platz haben – lesbische Feministinnen, Sexarbeiterinnen, S/M-Frauen, Separatistinnen und viele mehr – also ganz unterschiedliche Positionen und Perspektiven. Sie wollte einen Raum schaffen, in dem Begehren nie ein Grund für Ausschluss oder Urteil ist. Diese Reibung und Komplexität haben eine Vielzahl von Emotionen und Reaktionen in mir hervorgerufen: Irritation, Unverständnis, Verbundenheit, Distanz, Nähe und vieles mehr, mit denen wir im Prozess von LP gearbeitet haben.
Wie übertragt ihr eure Archivrecherche in den künstlerischen Prozess? Welche Aspekte der queer-lesbischen Geschichte finden sich im Stück wieder? Oder übertragt ihr in LP vielmehr die organische Genese, das Konzept der Lesbian Herstory Archives?
Neben konkreten Themen und gefundenen Motiven, wie Hund und Mund, übertragen wir die gerade beschriebenen Emotionen und Reaktionen, die uns während der Recherche begegnet sind. Unsere Archivrecherche hat zunächst über Resonanz und Intuition funktioniert. Welche Materialien sprechen zu mir? Wo erkenne ich mich persönlich wieder oder wo erkenne ich meinen heutigen politischen, gesellschaftlichen Kontext wieder und wo aber auch nicht? Der Motor unserer Recherche war das ‚Nicht wissen‘ – dies prägt meine Arbeitsweise generell. Fühle ich mich verbunden? Gibt es eine Reibung? Einen Widerstand? Wieso spüre ich einen Widerstand zu bestimmten Themen oder zu diesen Materialien? Warum will ich mir das eine anschauen und das andere nicht? Wo kommt plötzlich der Hund her? Wieso ist das im Studio aufgetaucht, als Motiv, als Material? Womit ist das verbunden? Rückwirkend versuchen wir das nachzuvollziehen. Ich würde die Übertragung in die künstlerische Praxis mit Prozessen des Remixens und Collagierens beschreiben. Denn auch die Songs, die wir alle selber geschrieben haben, wurden immer aus diesem Dialog mit anderen Materialien entwickelt. Also alles ist immer im Dialog oder als Reaktion auf etwas entstanden. Und ich hoffe, das wird irgendwann wieder geremixt. Die Lesbian Herstory Archives haben mich angefragt, ihnen einen Mitschnitt des Stücks fürs Archiv zu schicken. Vielleicht wird eines Tages eine andere Person etwas davon mitnehmen und etwas Neues daraus machen. Diese Vorstellung gefällt mir sehr.
Und ich spanne den Bogen wieder zur Musik: Ich finde es so spannend, dass Songs durch Melodien und Lyrics, die womöglich erstmal gar nichts mit mir zu tun haben, gar nicht in meiner Realität verankert sind, trotzdem etwas in mir hervorrufen können. An einer Stelle in LP beziehen wir uns auf den Song Hotel Room Service von Pitbull: “Forget about your boyfriend and meet me at the hotel room / You can bring your girlfriends and meet me at the hotel room”. Wenn du diese Lyrics, die von einem Cis-Dude gesungen werden, in einen anderen Kontext bringst, erzählen sie plötzlich eine ganz andere Geschichte, bekommen eine komplett andere Bedeutung. Was mich in der Arbeit an LP generell interessiert, ist die Erfahrung, dass wir in uns etwas aus den Geschichten anderer entdeckt haben. In Geschichten, die teilweise sehr fern oder fremd waren. Und ein großer, wichtiger Aspekt von LP sind Sehnsüchte – getriggert durch die Weitergabe von Geschichten von anderen, aber auch durch das Teilen von persönlichen Geschichten.
Am Anfang unseres Gesprächs hast du die Bedeutung von Emotionen hervorgehoben. Mein Eindruck ist, dass sich dieser Aspekt der Emotionalität und auch der jetzt angesprochenen Sehnsucht durch deine Arbeit ziehen. Kannst du das bestätigen?
Ja. Die Sehnsucht, etwas Anderes zu werden, und die Sehnsucht nach einer anderen Welt, einer anderen Zukunft im Vergleich zum Jetzt – das treibt mich an. In Neon Serenade war es die Sehnsucht nach jemand anderem. Das konzentrierte sich sehr auf diese Kapsel Paarbeziehung. In Lavender Cowboys haben wir uns viel mit Nostalgie und der Emotionalität, die sie hervorruft, beschäftigt. Die Sehnsucht nach einem zu Hause, was einmal da war oder auch nach einem, was noch nicht da ist, auf das man hofft. Nostalgie ist ein emotionaler Zustand, den viele teilen können, aber der gleichzeitig sehr unterschiedlich oder individuell für alle Involvierten ist. Jetzt bei LP ist es die Sehnsucht nach Verbundenheit, nach Verbindung – die Verbindung zu anderen Personen, und vor allem zu anderen Kämpfen und Geschichten. Letztlich bauen meine Arbeiten aufeinander auf und fügen diesem großen Ding Sehnsucht neue Aspekte, neue kleine Fragmente hinzu.
In der offenen Probe von LP, die kürzlich am tanzhaus nrw stattfand, habe ich spielerische Momente wahrgenommen, die etwas Verführerisches hatten und fast wie eine Art Flirting mit dem Publikum funktionierten. Diese spontanen Formen von Nähe und Interaktion fand ich sehr spannend.
In LP kreieren wir eine Ambivalenz, ein Spiel zwischen Distanz und Nähe, zwischen angesprochen werden und gleichzeitig nicht angesprochen werden. Dieses Hin- und Her ist dem Flirten auch inhärent. Du möchtest Nähe, aber gleichzeitig cool bleiben und Abstand halten. Wir erzeugen konkrete Momente, wo Zuschauer*innen vor kleinen Entscheidung stehen, wie sie jeweils reagieren wollen. Ist mir etwas zu nah? Will ich weg? Oder will ich den Hund berühren? Mir wird eine Zunge hingehalten – greife ich zu? Will ich danach greifen? Das schafft Interaktionen, auch wenn sie nur im Geiste stattfinden.
An Konzertformaten finde ich Sing along-Momente sehr spannend. Es gibt immer mitsingende oder auch mittanzende Konzertbesucher*innen. Und das löst wiederum was bei den Künstler*innen auf der Bühne aus. Es ist ein Austausch von etwas, also nicht einseitig. In jedem Fall erzeugt es Energie. Das ist das direkte Ergebnis der Teilnahme. Bei Konzerten wird das Publikum meist als Gruppe oder Masse angesprochen. In LP hingegen spielen wir gezielt mit individuellen Interaktionen. An der Verbindung und Nähe zum Publikum arbeiten wir im Probenprozess sehr intensiv. Wir haben bereits zwei öffentliche Showings angeboten, im Quartier am Hafen in Köln und zuletzt im tanzhaus, wo es genau darum ging. Interessanterweise haben uns Zuschauer*innen danach gespiegelt, dass sie sich Interaktionen ersehnen – bis hin zu dem Wunsch von uns mit den Zungen abgeworfen zu werden. Das deuten wir in einer Szene, wo wir Zungen werfen, an. Wenn wir intern, unter uns, proben, geht es oft um die Gewährleistung von Consent. Wie holen wir uns Einverständnisse für unser Vorgehen ab? Kann ich einfach eine Person mit einer Zunge bewerfen? Dieser mit uns geteilte Wunsch von Zuschauer*innen, bereit zu sein, angesprochen bzw. so angegangen zu werden, hat uns sehr überrascht. Beim Showing im Quartier am Hafen hat eine Person die Zunge wiederum auf die Bühne zurückgeworfen. Dieses gegenseitige Ausloten hat etwas mit dem räumlichen Setup zu tun. Wie ist der Raum aufgebaut? Wer kennt die Verhaltensregeln und Codes? Wer befindet sich gerade in wessen Raum? Sind wir im Veranstaltungsraum des tanzhaus nrw oder ist das Publikum in unserem (fiktiven) Space? Wir spielen mit dem Gefühl, einen Ort zu betreten, an dem man noch nie war, in dem es bereits eine Gemeinschaft gibt, die man noch nicht kennt. Zuschauer*innen müssen sich erstmal einlassen, beobachten, verstehen, bevor sie sich selbst sorglos in diesem Raum bewegen können.
Diese Flirtmodi, die du erwähnt hast, finde ich besonders spannend. Neben dem spielerischen Aspekt, dem ‚Ich zeige mich nicht ganz‘, ist LP auch ein Machtaspekt inhärent. Elin und ich wissen, wie wir uns verhalten ‚dürfen‘, wir kennen die ungeschriebenen Regeln, wir kennen die Codes. Das Publikum befindet sich dagegen in einer eher unsicheren Position. Und genau diese Momente empfinde ich performativ als besonders spannend. Wir spielen also bewusst mit Gefühlen der Unsicherheit. Unsicherheit und dieses ständige Überlegen: wie verhalte ich mich jetzt? Wie kleide ich mich? Wie bewege ich mich durch Räume, wie werde ich gelesen, sind ein Teil queerer Erfahrungen. Bzw. es ist eine fast universelle Erfahrung von marginalisierten Personen.
Dass ich mich als Zuschauer*in – trotz dieser beschriebenen Unsicherheitsmomente – in LP (relativ) schnell fallen lassen kann, hat sicher mit der Situation, der Atmosphäre zu tun, die ihr kreiert. Du hattest bereits das Bühnenbild erwähnt – die Ankündigung verspricht eine weiche Textillandschaft. Wie sieht der Raum aus?
Der Raum ist eine Mundhöhle. Das ist so ein starkes, wichtiges Bild für uns, ein körperlicher Bezug zum Themenfeld des Stücks. Der Mund als Eintrittsort in den Körper einer anderen Person. Durch den Mund nehme ich etwas auf und gebe ich etwas raus. Durch den Mund kann ich einem anderen Körper sehr nah begegnen. Wenn ich die Spucke einer anderen Person aufnehme, werde ich zu Teilen zu dieser anderen Person. Die Spucke bleibt in mir und verändert etwas in mir. In diesem Mundraum werden wir drei riesigen Zungen begegnen, mit unterschiedlichen Texturen. Das macht für mich sofort haptisch-somatisch ganz viele Texturen auf: Nässe, Wärme, Härte, Heimeligkeit. In manche Münder möchte ich reingehen. Das hat mit Begehren und Sexualität zu tun. Anderen Mündern möchte ich fernbleiben. Das hat mit Ekel, mit Abscheu zu tun. Es hat eine Ambivalenz. Außerdem ist da auch die Zunge. Der Mund und die Zungen sind mit der Stimme, dem Gesang verbunden. Die Stimme als Werkzeug. Und in manchen Momenten wird das Werkzeug zur Waffe. Und Zungen sind aus lesbischem Sex und Begehren nicht wegzudenken. Im Archiv sind uns starke Formen der Ablehnung gegenüber lesbischer Sexualität begegnet. Da kommt Joan Nestle wieder ins Spiel: Butch-Fem-Beziehungen haben lesbische Beziehungen erst sichtbar gemacht. Dadurch, dass es Frauen in den 1960er Jahren verboten war, ‚Männerkleidung‘ zu tragen, waren solche Paare einer anderen Diskriminierung ausgesetzt, die durch Gefühle wie Abscheu, Ekel und Aggression geprägt war. Der Mund ist das Motiv, in dem sich die verschiedenen Schwerpunkte von LP treffen und gleichzeitig stattfinden. Abscheu und Begehren existieren hier zur gleichen Zeit.
Als du diesen gefühlsbezogenen Widerstand gegen lesbische Sexualität angeführt hast, in den 1960er Jahren, wo sie sichtbarer wurde, musste ich an den extremen ultrakonservativen Backlash in den USA heute denken. Wie habt ihr das vor Ort erlebt?
Als Ley und ich in die USA gereist sind, war klar, dass in unserer letzten Woche die Amtseinführung von Trump stattfinden wird. Für uns war es wie der letzte Moment, in die USA zu reisen. Für alle möglichen Personengruppen wurden die Einreisebedingungen enorm erschwert, u.a. für trans* und nicht-binäre Personen. Trumps Amtseinführung bestimmte zu einem großen Teil die Gespräche vor Ort in den Archiven. Saskia wusste genau, was passieren wird. Die Community vor Ort war vorbereitet. In Saskias Freund*innenkreis wurde zum Beispiel ein neuer Care Table gegründet. Einmal im Monat hostet eine Freundin von ihr ein Dinner zu einem bestimmten Thema. Dazu sind generationenübergreifend Personen aus der lesbischen Community eingeladen. Es geht darum, sich zu stützen und sich nicht auseinanderreißen zu lassen. Wenn der Staat es nicht schafft, auf seine Leute aufzupassen und sich zu kümmern, dann müssen die Menschen aufeinander aufpassen, sich vernetzen, gegen Ausgrenzung und Unterdrückung einstehen, füreinander da sein.
Aber nicht nur in den USA gibt es derzeit einen massiven Backlash gegen queeres Leben. Ich komme aus Leipzig, Ostdeutschland, und seit mehreren Jahren finden in Städten wie Bautzen Gegendemonstrationen bei CSDs statt. Seit nunmehr zwei Jahren treten solche Demonstrationen auch in großen Städten wie Leipzig und Berlin auf. Queere Bars, Vereine und generell Orte queeren Lebens schließen immer mehr. In Deutschland hat die AfD Vielfalt und Geschlechterpolitik als „ideologische Indoktrination“ gebrandmarkt. Sie attackiert kulturelle Institutionen, die marginalisierten Stimmen eine Plattform bieten. Der rechte Backlash ist immens und hat enorme Auswirkungen auf das alltägliche Leben von Queers. Die Bilder von diesen CSD-Gegendemonstrationen sind krass: die Wut und die Aggression in den Gesichtern von Neonazis ist heftig, und diese Abscheu wird offen artikuliert. Aber diese Abscheu begegnet mir und meinen Freund*innen auch im Alltag. Queerfeindliche Gewalt nimmt seit Jahren zu – ich merke das in meinem Freund*innenkreis. Menschen werden immer häufiger offen beleidigt und körperlich angegriffen.
In New York war es beeindruckend zu sehen, wie organisiert die Leute dort waren und wie stark der Aspekt von Verbundenheit und Gemeinschaft im Mittelpunkt stand. Ohne dieses Zusammensein schaffen wir es nicht zu kämpfen – und das fand ich berührend und inspirierend. In diesem Care Table ging es nicht darum, politische Strategien auszuklügeln, sondern um ein gemeinsames Essen, um Kennenlernen, um Beziehungen zu schaffen, die einen durch die nächsten schwierigen Jahre von Faschismus tragen können. Ley und ich haben uns fest vorgenommen, diese Energie und diesen Gedanken mit nach Köln und NRW zu bringen. Das wird unser nächstes Vorhaben nach LP als Performance sein. Denn diese Abscheu und Wut allein auszuhalten, schaffen wir nicht.
Wenn vor jedem verliebten Blick, vor einer Umarmung, vor einem Kuss im öffentlichen Raum zuerst die Umgebung gecheckt werden muss, wenn Menschen sich nicht sicher im öffentlichen Raum bewegen können, wenn bestimmte Orte aus Angst vor Gewalt gemieden werden oder man lieber das Fahrrad als öffentliches Verkehrsmittel nimmt, um nicht Opfer queerfeindlicher, rassistischer, muslimfeindlicher oder anders motivierter Übergriffe zu werden – dann ist das eine erhebliche Einschränkung von Freiheit. Und diese erhebliche Einschränkung von Freiheit betrifft so viele Menschen aus unterschiedlichen Gründen nicht nur in meinem Umfeld.
Wie geht es dir als (junge) Choreograf*in in der derzeitigen Situation? Die Kürzungen von Fördermitteln in NRW führen zu einem Wegbrechen von Arbeitsmöglichkeiten und -zusammenhängen. Wie schaust du in die Zukunft?
Zunächst bin ich mit LP ein großes Risiko eingegangen. Es ist ein sehr offener und experimenteller Arbeitsprozess. Für so einen künstlerischen Prozess brauche ich Zeit, Ressourcen, zugängliche Proberäume. Es braucht Raum zum Ausprobieren und – ganz wichtig – auch zum Scheitern. Das ist notwendig, um neue Formen von Aufführungen zu entwickeln und um eine künstlerische Sprache erproben zu können und nicht nur den Fokus auf das eine Produkt zu haben, um dann wieder das nächste Projekt anzugehen. Das wird mit noch weniger Mitteln kaum umzusetzen sein. Das schafft total prekäre Arbeitsbedingungen.
Ich finde es sehr beängstigend, wie viel Kultur gerade verschwindet, weil öffentliche Förderungen wegfallen. Diese Kürzungen sind für mich ein weiteres Zeichen dafür, dass wir in faschistischen Zeiten leben. Mir wird immer klarer, dass eine wirklich freie Kunst und Kultur nicht ausschließlich aus staatlich geförderten Geldern entstehen kann. Die Lesbian Herstory Archives sind eine Grassroot-Organisation, finanziell und räumlich unabhängig von staatlicher Förderung. Kunst muss unabhängig sein! Kunst, Kultur und gemeinsames Zusammensein dürfen nicht verschwinden, nur, weil Fördergelder verschwinden. Ich wünsche mir, dass wir andere Wege finden – Wege, die auf Solidarität, Selbstorganisation und gegenseitiger Unterstützung beruhen.
Danke für das spannende Gespräch!
Benze C. Werner ist Choreograf*in und Tänzer*in wohnhaft in Köln. An der Schnittstelle von Tanz, Sound und Live-Performance untersucht dey das affektive und sinnliche Potenzial des Zusammenspiels von Musik und Bewegung. Im Zentrum stehen immersive, körperlich erfahrbare Situationen, die eine Resonanz zwischen Publikum und Performer*innen ermöglichen. Benzes künstlerische Praxis verbindet deren Hintergrund in zeitgenössischem Tanz und Ballett mit queer-feministischen und antifaschistischen Perspektiven. Die Abschlussarbeit Neon Serenade, entstanden im Rahmen des Studiums am ZZT in Köln, markiert den Beginn einer kontinuierlichen künstlerischen Recherche zu den Ästhetiken und Politiken, die Line Dancing, die sogenannte Country-Kultur und das Cowboy-Image umgeben. Das Stück wurde 2024 zu Now & Next am tanzhaus nrw eingeladen. LP, entwickelt in enger Zusammenarbeit mit Musiker*in und Produzent*in Ley Ghafouri, ist die dritte gemeinsame Arbeit und Benze C. Werners erste Koproduktion mit dem tanzhaus nrw als Choreograf*in.
Das Interview führte Lucie Ortmann, Dramaturgin am tanzhaus nrw.