Backstage mit Tiran Willemse

Portraitfoto des Choreografen und Performers Tiran Willemse.

Du arbeitest als Tänzer*in und Performer*in – gerade probst du mit Wu Tsang am Schauspielhaus Zürich. Gleichzeitig entwickelst du deine eigenen Arbeiten und kollaborierst u.a. mit der Shedhalle in Zürich, einem Ort für zeitgenössische, prozessbasierte Kunst. blackmilk war dein erstes eigenes Stück, das 2021 im Festival Les Urbaines in Lausanne uraufgeführt wurde. Wie kam es dazu, dass du angefangen hast, eigene Performances zu entwickeln?

Das war ein ziemlich langer Prozess. Es hat sich sehr organisch und auf bestimmte Weise, was Biografien von Tänzer*innen angeht, auch vorhersehbar entwickelt. Ich glaube allerdings nicht, dass ich jemals bewusst beschlossen habe, Tänzer*in oder Performer*in zu werden. Das war das, was mir zur Verfügung stand. Ich habe einen klassischen Hintergrund im Theater und mit fünf Jahren angefangen zu tanzen. Später war ich dann ständig im Theater, um Ballett zu sehen, oder ich habe eben trainiert. Es ist verrückt, wenn ich daran denke, wie viel Zeit ich damit verbracht habe, mir Aufführungen anzusehen und weiter zu trainieren. Auch heute trainiere ich viel, und ich gehe oft in die Oper und ins Theater. Selbst wenn ich weiß, dass ich das Stück nicht genießen werde. Ich mache das als Recherche und interessiere mich sehr dafür, wie Publika auf bestimmte Situationen reagieren.

Mir war es nicht bewusst, dass du so eine enge Beziehung zum Ballett hast.

Ich denke viel über die Trennung zwischen klassischer und zeitgenössischer Kunst nach. Ich finde, diese Felder müssen nicht nur nebeneinander existieren, sondern auch mehr miteinander verbunden werden. In der zeitgenössischen Kunst und Performing Arts Szene gibt es gerade diese wichtigen Konzepte von Care und Sanftheit/Zartheit (‚Softness‘) und ich frage mich, wie diese Ideen auch in ein eher klassisches Umfeld einzubringen wären. Ich glaube, das sind schleichende Veränderungsprozesse. Es braucht eine lange Zeit, bis sich etwas Neues herauskristallisiert. Für mich hat Training und das lange auf etwas Hinarbeiten, etwas Sanftes/Zartes. In dem Sinne, dass es respektvoll gegenüber dem Handwerk ist. Für mich ist das sehr wichtig. In der klassischen darstellenden Kunstszene gibt es eine nachhaltige Struktur, die hilft, sich darin zurechtzufinden. Wenn du als Absolvent*in der Ballettschule in ein Ensemble eintrittst, wirst du nicht sofort Solist*in. Ich erinnere mich, dass wir immer in Reihen organisiert waren und es klar war, dass ich nicht in den ersten Reihen tanzte, ich befand mich in der 4. oder 5. Reihe. Ich habe dort gelernt zu respektieren, dass Andere schon vor mir da waren und länger trainierten als ich. Ich finde es interessant, sich der eigenen Positionierung innerhalb dieser Struktur bewusst zu sein, sich zu fragen, wie man behandelt wird und wie man andere behandelt. Ich habe zu anderen Choreograf*innen und Tänzer*innen aufgeschaut. Ich verstehe, dass klassischer Tanz und Handwerk kritisiert werden, dass man die Härte und Selektionsprozesse in den Fokus nimmt, und dahinter stehe ich voll und ganz. Dennoch bin ich immer noch stark von der Disziplin der klassischen Praktiken beeinflusst, und ich sehe in ihnen ein großes Potenzial.

In blackmilk beziehst du dich aber auf Bewegungsmaterial und Gesten aus der zeitgenössischen Musik- und Popkultur und auf trompoppies, Trommelmajorette in aufwendigen, außergewähnlichen Uniformen, die bei Sportveranstaltungen in Südafrika auftreten. Kannst du mehr über diese Referenzen und Bezüge, die du im Stück aufmachst, erzählen?

Ich war auf YouTube und sah eine Performance von Kayne West. Und direkt danach von Lana Del Rey. Und ich dachte, wow. Irgendwie hatten ihre Körper eine sehr ähnliche Wirkung auf mich, und das hat mich fasziniert. Kayne Wests Performance war eine Explosion von Dingen und Lana del Rey hat fast gar nichts gemacht. Aber es gab diese Ähnlichkeit im Sinne einer Melancholie, die sie in sich trugen – und ich konnte mich performativ darauf beziehen. Zur gleichen Zeit las ich James Baldwin und Virginia Woolf. Das war im Sommer 2017. Ich empfand die gleiche Art von Melancholie aufgrund der Art und Weise, wie die Worte in ihren Büchern strukturiert waren. Ich war beeindruckt von diesen Ähnlichkeiten zwischen Schwarzer Männlichkeit und weißer Weiblichkeit. Seit ich die Ballettschule besucht habe, bewege ich mich innerhalb institutionalisierter Strukturen. Ich war dort die einzige männlich gelesene und die einzige Person of Color. Ich wurde besessen von dieser Kultur weißer Weiblichkeit. Ich wollte dazugehören, aber das war für mich nie möglich, weil ich anders aussah. Das Gleiche galt für die Kultur der trompoppies, wo traditionell Frauen Männer anfeuern, die Rugby oder Fußball spielen. Mir wurde immer gesagt, du musst tun, was die Jungs tun. Ich war so jung, dass ich es nicht verstanden habe. Ich wollte das unbedingt machen. Und dann habe ich trainiert, weil ich dachte, wenn ich gut genug bin, akzeptieren sie mich. Ich habe fünf Jahre lang jeden Tag trainiert und war wirklich sehr gut. Aber ich konnte nicht ins Team aufgenommen werden, weil ich männlich war. Wenn es um den Zugang zu Institutionen ging, bin ich irgendwie immer mit einem Nein konfrontiert gewesen. In meiner eigenen Arbeit wollte ich diese Explosion. Ich wollte meine eigene Institution sein und die Regeln bestimmen. Diese Art von Protest hat mich interessiert.

blackmilk ist für mich also ein Hybrid aus Dingen, die ich schon immer sein wollte, und etwas, das mir zugeschrieben wird. Aufgrund meines Aussehens werde ich von Institutionen auch heute noch als Schwarze Person angesehen und als männlich identifiziert. Vielleicht könnte man meine Herangehensweise mit Voguing vergleichen, wo queere und trans* Personen of Color sich Posen zumeist weißer Models aus der Zeitschrift Vogue aneignen. In der eigenen Imagination zu sein und die eigene Fantasie von dem zu erfüllen, was du wirklich bist.

Für mich macht der Titel blackmilk darüber hinaus viele Assoziationen auf, er hat etwas Poetisches. Möchtest du etwas darüber sagen?

Ich wollte mit dem Stück eine Konfrontation erzeugen. Also sollte der Titel etwas Vulgäres haben. Milch zu verschütten, ist sehr vulgär. Man kann sie überall sehen, das Weiß bleibt irgendwie erhalten. Es ist ein sehr vulgäres Bild, wenn man schwarze Milch über Institutionen gießt. In gewisser Weise finde ich das Stück auch vulgär, weil ich mit dem Theaterapparat auf eine vulgäre Weise arbeite. Das ist der Punkt, an dem ich ansetzen wollte. Das war in gewisser Weise mein Protest gegen diese Rahmen.

Diese Rahmen – die Kontexte der ‚alten‘ Institutionen – scheinen immer noch so mächtig, nach vielen Jahre des Aufbrechens. Was fasziniert dich an der Bühne? An den Theatereffekten mit Licht und Nebel, aber auch an dieser Architektur der Trennung, der Zurschaustellung?

Ich interessiere mich sehr für das Theater, weil ich es als mein Handwerk betrachte. Das Theater ist ein Ort, der für Körper gebaut wurde, und es bietet die Möglichkeit, Körper anders zu sehen. Meine Bewegungspraxis steht im Dialog mit der theatralen Umgebung, es ist eine Frage, wie ich meine Beziehung zum Publikum gestalte und wie wir im Stück zwischen Theater und Museum und ihren verschiedenen Rahmen springen. All diese Rahmen, in denen die Dinge miteinander kollidieren. In blackmilk ist es offensichtlich, dass ich mit diesen Rahmen spiele. Wie ich schon sagte, ist es ziemlich vulgär, und ich denke viel darüber nach, was es bedeutet, das Stück erneut und jetzt aufzuführen. Jetzt, wo ich viel Zeit damit verbracht habe, bin ich irgendwie schon in eine andere Richtung unterwegs. Ich habe das Stück weiterentwickelt und verändert, während meine Praxis wuchs und reifte. Es ist immer noch vulgär, aber viel dezenter als vorher. Ich transformiere es, um es weiter performen zu können und um es im jeweiligen Jetzt zu verorten.

Für mich ist blackmilk auch eine Erforschung von Zurschaustellung, von Exposition. Was denkst du über Macht in diesem Zusammenhang?

Dazu habe ich sehr viel recherchiert. Vor kurzem habe ich meine Masterarbeit in Expanded Theater an der Hochschule der Künste Bern über diese Faszination für weiße Weiblichkeit im Theater abgeschlossen. Das Theater wurde für Könige oder sehr reiche Männer geschaffen, um von Performerinnen unterhalten zu werden. Ich setze meinen Körper in Relation zum Bild dieser Performerinnen. Ich denke an Hysterie, Melancholie, Nostalgie und wie all dies in der Geschichte des Theaters und des Kinos in weibliche Körper eingeschrieben wurde. Weibliche Körper wurden vor dem Publikum so eingesetzt und inszeniert. Ich interessiere mich sehr für diesen Raum und dafür, wie diese Strategien neu bearbeitet werden können. Doch was sind die Erwartungen an mich innerhalb des theatralen Rahmens und was ist mein Körper im Dialog mit diesen Erwartungen. Wie breche ich das alles auf und gehe spontan auf Zuschauer*innen ein? Ich möchte die Rezeption meiner Zuschauer*innen informieren und transformieren, so dass sie bei der nächsten Aufführung eine andere Wahrnehmung haben, im theatralen Kontext eine andere Perspektive einnehmen.

Jetzt muss ich an das sehr eindrückliche Ende von blackmilk denken.

Ja, ich habe kürzlich in einem noch nicht publizierten Essay über dieses Ende geschrieben: „blackmilk marks a moment in my practice I began to have a different relationship with showing work. That had always been an ongoing conversation being black in terms of survival. In my performance, I finish escorting the audience out almost one by one. The weird position of being an artist who performs. Being in the oddest position is often being in-between the class position and having that view of access. Coloniality as a form of access has always been in my work. To think about territorial expansion, the condition of violence. This dance is part of another tomorrow perhaps, another kind of language speaking things of nature, naturalness, the way it can or should be almost for me. Speaking things of blackness, about the void, the endless void.”* Das möchte ich so stehen lassen. Ich möchte das Ende nicht erklären.

*Für Coreia Ausgabe #9; Coreia ist eine experimentelle, kritische und diskursive Publikation über die Künste im Allgemeinen, mit besonderem Bezug zum Medium Tanz. Coreia erscheint zweimal im Jahr in portugiesischer Sprache und versteht sich als unabhängiges und internationales Forum. Coreia wird auf Papier gedruckt und in Portugal kostenlos verteilt. Mit jeder neuen Ausgabe wird die vorherige Ausgabe online zur Verfügung gestellt: https://www.coreia.pt/

Der Effekt dieser Schlussszene ist Verunsicherung und wenn sie erklärt wird, verliert sie ihre Kraft?

Genau. Mich beschäftigen Fragen nach Race, Gender und Klasse. blackmilk steht für etwas, das weiß war und genauso Schwarz sein kann. Überall, wo ich in Europa oder Südafrika lebe, sehe ich, dass die Menschen getrennt werden. Diese Art von Menschen lebt hier, diese Art von Menschen lebt dort. Wenn ich also ins Publikum gehe, sage ich, ich bin jetzt hier. Könnte ich auf die Bühne gehen und einer dieser weißen Schwäne in Schwanensee sein? Die Antwort liegt in dieser Art von Beziehung, die konstruiert wird.

Du zeigst blackmilk zuletzt auch im Kontext der Bildenden Kunst, in Ausstellungsräumen, die wieder anders aufgeladen sind.

Das Theater ist der Raum für das Spektakel – und, ehrlich gesagt, das liebe ich und es reizt mich. In Museen und Galerien ist die Art und Weise, wie Zeit und Körper genutzt werden, anders. Und das interessiert mich genauso sehr. Ich bin mir noch nicht sicher, was ich in der Shedhalle genau machen werde, ob ich das ganze Stück oder nur einen Teil davon zeige, aber im Kontext der Bildenden Kunst sind die Möglichkeiten sehr offen. Es geht hier nicht um Spektakel, sondern darum, die eigene Praxis zu zeigen. Es ist irgendwie auch sehr informell – für mich als Theatermacher*in ist das sehr interessant. Ich finde es spannend, im Zeigen, durch das Zeigen über meine Arbeit nachzudenken. Es ist auch sehr interessant, ein Stück mit so vielen theatralen Effekten zu entwickeln und diese dann wegzulassen. Während ich mit dem Stück auf Tour war, lag ein Schwerpunkt darauf, meine körperliche Präsenz und Erschöpfung zu zeigen. Ich wollte, dass das Publikum sieht, wie ich fast zusammenbreche. Ich wollte den Effekt erzielen, dass das Publikum sich stark in mich einfühlt, mit mir mitfühlt. Das ist sehr intensiv, aber schön.

Wir haben sehr viel über die Macht von Institutionen gesprochen. Hast du eine Vision für eine Institution der Zukunft?

Ich denke viel über das Potenzial von Menschen nach, die wie ich als ‚Ausländer*in‘ in Gesellschaften leben. Sie bringen neue Ideen mit. Es ist eine Konfrontation. Sie kommen aus unterschiedlichen Kontexten und wissen, wie Dinge anders laufen können. Ich frage mich, wie dieses Wissen zusammenkommen kann. Ich denke an eine Erweiterung in einer semantischen Weise. Rihanna ist eine der berühmtesten Popstars und stammt aus Barbados. Sie ist in die USA immigriert und jetzt ist sie diese Sensation. Solche Geschichten sind wichtig, sie motivieren Menschen und zeigen ihnen Möglichkeiten auf. Im Moment baue ich mit meinem Körper ein Tanzmuseum auf, das auf meinen eigenen Erfahrungen als Performer*in beruht. Ich bin wirklich eine Institution, ich kann mein eigenes Museum bauen. Tanz ist eigentlich nichts, was ein Gebäude/Gehäuse besitzen kann. Tanz ist eine Praxis. Wir tragen sie im eigenen Körper und in der eigenen Erfahrung.

Ich lese gerade „ Ghosts of My Life: Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures” von Mark Fisher. Früher hatten wir diese romantische Vorstellung, dass es in der Zukunft so oder so sein wird. Jetzt befinden wir uns in einer Zeit, in der sich die Dinge und Ideen einfach wiederholen. Das ist der Grund, warum für mich mein Handwerk und meine Erfahrung wichtiger sind als eine Aktion auf der Bühne. Ich bringe meine Erfahrung auf die Bühne, die im Dialog mit der Geschichte der Performance und des Theaters steht, und frage: Wie kann das nachhaltiger sein? Angesichts der Klimakatastrophe ist es ja eigentlich verrückt, mit eigenen Arbeiten zu beginnen und Stücke zu entwickeln. Wir wissen nicht, was mit uns geschehen wird. Wie können wir unter diesen Umständen ein Werk schaffen, das wiederholbar ist, das sich bewährt?

blackmilk ist als erster Teil einer Trilogie angekündigt worden. Wie geht es weiter?

Ich arbeite auf eine nichtlineare und organische Weise. Irgendwie bin ich fast fertig mit der Trilogie, aber ich glaube nicht, dass es jetzt an der Zeit ist, sie umzusetzen. Das respondiert mit dem, was ich eben beschrieben habe. Ich denke sehr viel darüber nach, was um mich herum in der Welt passiert und wie ich von diesen Dingen beeinflusst werde. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für den zweiten und den dritten Teil der trompoppies-Trilogie. Vielleicht verbringe ich die nächsten zehn Jahre damit, auf diesen Arbeiten ‚zu sitzen‘, sie mit mir zu tragen anstatt sie zu realisieren. Mein Fokus liegt auf dem, was jetzt gerade geschieht, und auf den Dingen, die in blackmilk zum Ausdruck kommen. Das sind sehr interessante Dinge, die mehr erforscht werden müssen. Und das muss jetzt geschehen, denn es ist die richtige Zeit dafür. blackmilk hat sich erst mit der Zeit zu einer ganz eigenen Sache entwickelt. Außerdem benötige ich für die nächsten zwei Stücke der Trilogie Ressourcen, um sie zu verwirklichen – der Produktionszeitraum steht auch immer in Beziehung zu den Mitteln und Möglichkeiten.

Vielen Dank für deine Zeit und das Teilen deiner Gedanken.

 

Für blackmilk wurde Tiran Willemse mit dem Performancepreis Schweiz 2023 ausgezeichnet. „Die Jury war beeindruckt von der körperlichen Präsenz, der Präzision und Ausgereiftheit von Tiran Willemses Choreografie. Willemse gelingt es, über neunzig Minuten einen Spannungsbogen aufzubauen, in den das Publikum aktiv einbezogen wurde. […] Tiran Willemse verhandelt auf sensible Weise Männlichkeit. Willemse entwirft eine eigene Identifikationsfigur, die sich durch Zartheit und Verletzlichkeit auszeichnet.“

Gebürtig aus Südafrika lebt Willemse in Berlin und Zürich und arbeitet sowohl tänzerisch als auch choreografisch. Willemses Arbeiten basieren auf einer sorgfältigen Beobachtung von Raum, Imagination, Geste und Klang. Einen Fokus der Arbeit bildet die Auseinandersetzung mit Praktiken der Aufführung, Kommunikation und Infragestellung des Verhältnisses von Race und Gender. Willemse arbeitete unter anderem mit Trajal Harrell, Jérôme Bel, Meg Stuart, Ligia Lewis und Eszter Salamon zusammen.

Die Fragen stellte Lucie Ortmann.

Der Performer Tiran Willemense ist von Nebel umgeben und wird von gelbem Licht angestrahlt. Seinen Körper siet man nur schemenhaft.

blackmilk

Tiran Willemse
11.11. + 12.11.