Backstage mit Céline Bellut

Céline Bellut trägt einen Pelzmantel und hat den Mund aufgerissen als würde sie schreien.

In deinem neuen Stück „Plötzlich überquert ein Faultier die Straße (Suddenly a sloth crosses the street)“ geht es um Ungehorsam als Mittel, um Ungehorsam als Weg, sich zu befreien. Kannst du genauer beschreiben, wogegen Widerstand geleistet wird oder was unterlaufen werden soll? Wovon wollt ihr euch befreien?

Die Arbeit an dem Stück begann damit, dass ich mich als Tänzerin, Choreografin und Tanzschaffende von der ständigen Beurteilung durch mich selbst befreien wollte und von dem, was meinem Körper lange Zeit durch meine Tanzausbildung aufgezwungen wurde. Aber es hat auch mit meiner sozialen Konditionierung als Frau zu tun, wie mir beigebracht wird, mich zu meinem Körper zu verhalten und mich auf eine bestimmte Art und Weise als weiblicher Körper zu bewegen. Ich hatte das Gefühl, dass ich zu viele Regeln verkörperte, dass ich zu viele Regeln befolgte. Ich hatte den dringenden Wunsch, mich von all dem zu befreien.

Was bedeutet Freiheit für dich genau?

Persönlich bedeutet Freiheit für mich, eine Entscheidung treffen zu können, ohne mit negativen Konsequenzen rechnen zu müssen.

In deinem letzten Stück „A performance is a long quiet river“ hast du bereits das performative Potenzial von Langeweile und Stagnation ausgelotet und verschiedene Konzepte von Passivität untersucht. Du hast auch die privilegierte Perspektive kritisiert, die immer das Aktive und Energetische bevorzugt. Bildet dies eine Grundlage für dein neues Stück? Und inwiefern ist das deiner Meinung nach heute besonders wichtig?

„Plötzlich überquert ein Faultier die Straße“ ist auf jeden Fall der zweite Schritt nach „A performance is a long quiet river“. Ich habe ein dreiteiliges Projekt vor Augen gehabt, als ich mit dem Prozess begann. Ich hatte recherchiert, was für meine Kreativität wichtig ist, wie ich als kreativer Mensch funktioniere, woher meine Kreativität kommt. Im ersten Teil geht es darum, sich zu langweilen und gar nichts zu tun, und im zweiten Schritt geht es darum, Entscheidungen zu treffen und dabei nicht die erste einfache Antwort zu wählen. Also meinen Automatismus, meine Ausbildung und alles andere auszusetzen, um diese erste einfache Antwort missachten zu können, damit eine andere Art von Kreativität entstehen kann.

Ich glaube, dass unsere Gesellschaft viel zu schnell agiert, wir fürchten uns vor Langeweile und wir fürchten uns vor zweiten Meinungen und nehmen einfach immer das, was zuerst kommt, was am schnellsten und am unterhaltsamsten ist. Ich denke, wir müssen lernen, Langeweile zu akzeptieren und längeres Nachdenken zuzulassen. Jede politische Debatte ist nur ein oberflächliches Pingpong – in den sozialen Medien haben wir die Tendenz, sehr vereinfachte Erklärungen abzugeben, superschnelle Fragen, superschnelle Antworten. Daher fand ich das Thema Ungehorsam interessant, um meiner eigenen Wahrheit nicht zu gehorchen, um jeder Form von sozialem Konstrukt, das mir aufgezwungen wurde, nicht zu gehorchen.

Ungehorsam, Verweigerung, Ausstieg aus der Produktivität sind starke Motive in der Philosophie, in der Literatur. Bartlebys "I would prefer not to" ist in diesem Sinne sehr berühmt. Ein Tanzstück zu produzieren braucht einen Willen, Fleiß, Verabredungen mit einem künstlerischen Team. Es erfordert, dass die Beteiligten funktionieren. Siehst du einen Widerspruch zwischen dem, was auf der Bühne verhandelt wird und den Produktionszusammenhängen im Tanz, in der Kunst? Und wie gehst du damit um? 

Obwohl das Stück sich mit dem Thema des Ungehorsams im Sinne von weniger tun und dem Zulassen von Faulheit beschäftigt, nehmen wir auf der Bühne keineswegs eine faule Position ein. Ich bin mehr daran interessiert, dem Publikum verschiedene Zustände aufzuzeigen und die Möglichkeit einzuräumen, über Faulheit nachzudenken. Es war also von Anfang an kein Konflikt. Wir wussten, dass wir die Faulheit nicht erforschen werden, indem wir sie anwenden. Aber wir haben zu Beginn diskutiert, wie wir Ungehorsam und Faulheit in eine Tanzpraxis integrieren und trotzdem etwas tun können. Wir hatten den Wunsch, eine gemeinsame Erfahrung zu machen, und zu sehen, wie diese Konzepte des Ungehorsams und der Faulheit uns dabei etwas bringen.

Aber ja, tatsächlich habe ich Konflikte mit der Kunstproduktion, mit dem politischen Kontext der Produktion von Kunst. Ich frage mich oft, ob das Ganze überhaupt einen Sinn hat. Ich habe das Gefühl, dass wir viel zu viel produzieren. Ich habe auch Schwierigkeiten, mir mich als Choreografin in der Zukunft vorzustellen. Ich denke, dass das nicht so sehr gefragt sein wird, und dass eh überall so viel Kunst produziert wird. Das ist definitiv eine Zerrissenheit, der ich momentan ausgesetzt bin.

Vielleicht lernst du in dem aktuellen Arbeitsprozess etwas, auf dessen Basis du dich entscheidest, anders zu arbeiten, anders zu produzieren und dich als Künstlerin im Kontext der Performing Arts anders zu positionieren. Vielleicht passiert das nicht jetzt sofort, aber in der Zukunft. Der Widerspruch, dass man, wenn man ein Stück über Ungehorsam machen will, konsequenterweise gar kein Stück entwickeln kann, ist sehr kategorisch gedacht. Vielleicht geht es eher um kleine Veränderungen und Anpassungen. Wie choreografierst du denn unbeugsame und unkontrollierbare Performer*innen, die im ständigen Dialog mit ihren Bewegungsimpulsen stehen? Wie entsteht daraus eine wiederholbare Aufführung?

Ich würde sagen, ich gebe die Kontrolle ab. Das ist auch der Grund, warum ich in diesem Stück mittanze. Das Stück besteht aus vier Teilen. Zwei Teile sind stärker durchchoreografiert, aber im ersten und vierten Teil geht es um die unkontrollierbaren Körper der Tanzenden. Für mich wirft das die Frage auf, was es bedeutet, zu choreografieren. Ich denke beim Choreografieren nie an das Aufzwingen, an die Vorgabe von Bewegung. Für mich geht es beim Choreografieren darum, einen Rahmen zu schaffen, in dem sich die Performer*innen wiederfinden können. Es geht um Timing, wir haben Musik, wir haben bestimmte Cues, wir nehmen uns einen bestimmten Weg vor. Auf diesem Weg gibt es Konflikte zwischen unseren Körpern und unseren Vorstellungen, aber insgesamt werden wir durch eine Struktur gestützt. Und darin ist jede*r frei, einfach zu tun.

Ein Faultier auf einer Straße steht in absolutem Widerspruch zur Geschwindigkeit des Verkehrs und es befindet sich dort in Gefahr. Unsere Gesellschaft hat da wenig Toleranz für Langsamkeit oder Unterbrechung – denkt man zum Beispiel an die aggressiven Reaktionen und die Kriminalisierung von Straßenblockaden der Letzten Generation. Doch ein Faultier löst sofort softe Sehnsüchte aus. Nach einfachem Herumliegen und Schlafen. Tiere spielen in deinem Stück eine größere Rolle. Was bedeutet diese Konfrontation mit Tieren für dich?

Ich mag dieses Bild eines Faultiers, das die Straße überquert, gerade wegen dieser Langsamkeit und Sanftheit. Ich persönlich versuche nicht, Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Sanftheit wird immer ihren Weg finden. Das ist auch der Grund, warum ich kein konfrontatives Stück mache, sondern eine andere, eine softe Realität zeige. Tiere tauchen auf, damit es nicht nur um unsere Gesellschaft und uns geht. Ich wollte es für andere Lebensformen öffnen, wie Pflanzen oder Tiere. Die Art und Weise, wie Menschen Tiere zu Unterhaltungszwecken dressiert haben, ist für mich der Gipfel der Absurdität, wenn es um Gehorsam geht. Tiere leiden zu lassen, nur zu unserer eigenen Unterhaltung macht für mich deutlich, wie krass egoistisch die menschliche Spezies sein kann. Ich möchte nicht in Klischees sprechen, aber Tiere haben diesen egoistischen, manipulativen Überblick nicht, den Menschen so häufig einnehmen. Wir zwingen nicht nur uns selbst etwas auf, sondern auch den Pflanzen und Tieren.

Es gibt dieses Meme mit einem Faultier, das eine Straße überqueren will. Dann schnappt sich jemand das Faultier und trägt es in Zeitlupe auf die andere Seite – dabei wird der Song „I believe I can fly“ eingespielt. Es ist interessant, dass alles, was in einem Meme vorkommt, wie ein kondensiertes Bild für relevante Themen unserer Gesellschaft steht.

Aber das ist immer unsere menschliche Perspektive. Es gibt so unendlich viele Videos von Tieren. Ich habe zu Tieren im Zirkus recherchiert und mir Videos von Tigern, Elefanten und Pferden angeschaut und es war sehr schwer für mich. Man konnte sehen, dass bestimmte Tiere revoltieren wollen, aber es wird immer Gewalt angewendet, bei der Dressur geht die ganze Zeit um Dominanz.

Die Ausbeutung und der Missbrauch von Tieren ist ein sehr erschütternder Aspekt unserer Gesellschaft. Gleichzeitig gibt es eine lange Tradition der Romantisierung der Natur. Doch die sogenannte freie Wildbahn zeugt oft vom Kampf ums Überleben, aus dem die Stärksten oder Anpassungsfähigsten hervorgehen. Der technische Fortschritt hat Menschen auch geholfen, gerechter teilzuhaben und besser zu leben. Wie stehst du dazu?

Das ist eine schwierige Frage. Einerseits bin ich mir sicher, dass es vor 2.000 Jahren für Menschen viel schwieriger war. In den meisten Zivilisationen gilt es heute als Verbrechen, jemanden zu töten, während es in anderen Zeiten die Notwendigkeit war, zu überleben. In dem Stück kritisiere ich nicht alle Arten von Zivilisation. Ich kritisiere vor allem den Kapitalismus. Und die Idee, das Recht zu haben, sich Dinge, Menschen und Ressourcen anzueignen. Die Idee des Eigentums an sich. Ich meine, in einigen Ländern wurde ein so wichtiger Rohstoff wie Wasser privatisiert. Im Kapitalismus eignet man sich die Natur auf umfassende Weise an. Ich glaube nicht, dass wir so eine Zivilisation sind, die allen hilft. Ich denke, dass der Kapitalismus die kritische Grenze erreicht hat, an der er jedes Leben auf der Erde ernsthaft gefährdet, und wir werden unsere Art zu konsumieren ändern müssen, um zu retten, was noch übrig ist.

Der vierte und letzte Teil des Stücks ist eine Hommage an Vaslav Nijinskys „L'Après-midi d'un faune“ von 1912, das zur Zeit seiner Entstehung sehr kontrovers aufgenommen wurde. Darin verkörpert Nijinsky einen Faun, einen Waldgott oder –geist. Für die neuartige Bewegungssprache ließ er sich von Malereien auf antiken Vasen inspirieren, in denen er einen von den moralischen Vorstellungen seiner Zeit befreiten körperlichen Ausdruck erkannte. Was fasziniert dich an dem berühmten Solo? Und welchen Bezug hat es heute zu Ungehorsam oder Freiheit?

Für mich ist es eines der ikonischsten Stücke der europäischen Tanzgeschichte. Im Rahmen meiner Ausbildung in Frankreich habe ich es schon sehr früh kennengelernt. Mit meinem Zugriff darauf werfe ich die Frage auf, was die Kunst vorantreibt. Eine neue Generation von Künstler*innen bricht mit der Kunst der vorherigen. Wir sind mit der Geschichte des Tanzes verbunden, und Ideen entstehen nicht aus dem Nichts heraus. Indem wir Nijinsky feiern, können wir zeigen, dass alles, was wir heute auf der Bühne machen, auch deshalb entstehen kann, weil andere uns den Raum dafür gelassen haben. Nijinskis Stück ist nicht das einzige Stück in der Tanzgeschichte, das ungehorsam war. Was mich besonders interessiert, ist dieses halb Mensch, halb Tier sein. Ich wollte sehen, was in unseren Körpern als Performer*innen passiert, wenn wir mystische, magische Kreaturen verkörpern, die nicht mehr nur menschlich sind. Die These war, dass wir uns so weniger Sorgen machen müssen, dass wir uns so leichter von unseren sozialen Konstrukten und künstlerischen Kontexten befreien können. Als magische Tiere können wir uns ohnehin nicht gut benehmen.

Ist es heute noch möglich, ungehorsam zu tanzen? Tanzen die Leute deshalb auf Demonstrationen? Was glaubst du, welche Wirkung der Tanz hier hat?

Das kommt auf den Kontext an. Würden wir das, was wir auf der Bühne machen, auf der Straße tun, wäre es extrem ungehorsam und auch gefährlich für uns. Wenn man auf der Straße seltsame Dinge tut, widerspricht das der Art, wie wir trainiert und erzogen werden, uns im öffentlichen Raum zu verhalten. Tanzen in der Öffentlichkeit kann in manchen Situationen wirklich ungehorsam sein, in anderen nicht. Wie man das auf die Bühne bringt, ist wieder eine andere Frage. Können wir auf der Bühne ungehorsam sein? Ich glaube nicht, dass es hier noch viele Grenzen zu überschreiten gibt. Wir haben heute in der Tanzszene einen Punkt erreicht, an dem ich mich völlig sicher fühle, alles zu tun. Das ist sogar etwas, das von uns erwartet wird. Aber das war nicht immer so.

Der Kunstkontext schafft einen Raum, wo das, was passiert, weniger Konsequenzen hat. Es gibt durchaus Regeln und Konventionen im Theater, die aber vielleicht eher für das Publikum gelten. Wünschst du dir für das Stück ein ungehorsames Publikum? Kann man Tanz ungehorsam rezipieren?

Für mich gilt hier die Devise Kants, dass die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Wenn das Publikum seine Freiheit nutzt, um andere abzulenken oder sie nicht respektiert, dann wird das zu einem Problem. Man fängt nicht an, sich zu bewegen oder laut zu reden, wenn man ein Tanzstück schaut, weil das Nachbar*innen stören würde. Nein, es macht keinen Spaß, ein ungehorsames Publikum zu haben. Für mich geht es hier aber auch gar nicht darum, ungehorsam zu sein. Es geht um die Auseinandersetzung mit dem Thema Ungehorsam. Ich versuche nicht, einen Kontext zu schaffen, in dem alle ungehorsam sein müssen. Die Frage, ob man ungehorsam sein kann, wenn man Tanz rezipiert, verstehe ich nicht. Sie erscheint mir paradox.

Die Frage kann man auf verschiedene Weise lesen. Im Tanz gibt es zum Beispiel oft eine hierarchische Struktur der Sinne. Ich könnte als sehende Person anfangen, ein Stück nur zu hören. Das könnte eine Möglichkeit sein, der Struktur eines bestimmten Stücks gegenüber ungehorsam zu sein. Vielleicht kann man Tanz ungehorsam rezipieren, indem man, nachdem man etwas gesehen hat, eine andere Vorstellung von dem hat, was mit Tanz möglich ist.

Ich glaube nicht, dass es eine bestimmte Regel gibt, wie wir Tanz zu interpretieren haben. Ich glaube, dass alle frei sind, ihre eigene Art und Weise zu haben, etwas zu rezipieren. Weil ich nicht glaube, dass es eine Regel gibt, die man nicht missachten kann, gibt es also auch nicht viel, dem man nicht gehorchen kann. Wenn man ein Buch liest und es wegwirft, hat man das Buch nicht gelesen. Die einzige Art, dem Tanz gegenüber ungehorsam zu sein, wäre für mich, ihn nicht zu rezipieren. Und ist es dann Ungehorsam oder Widerstand? Manchmal muss man sich leiten, überraschen, mitnehmen lassen. Aber eine Aufführung zwingt dich nicht, an ihr teilzuhaben oder sie zu genießen.

Die Fragen stellte Lucie Ortmann.

Die Choreografin und Tänzerin Céline Bellut interessiert ein spontaner und urteilsfreierer Dialog zwischen Performer*innen und Zuschauer*innen. Durch den Einsatz verschiedener Ausdrucksmittel in ihren Performances, wie Gesang, bewegtes Material, Videoinstallation, choreografierter oder improvisierter Bewegung, erforscht Céline Bellut auf der Bühne Themen, die sich auf ihr zeitgenössisches, politisches und soziales Umfeld beziehen. Bellut lebt und arbeitet in Köln und präsentiert ihre Stücke in NRW und international, zuletzt im tanzhaus NRW Düsseldorf, in der TanzFaktur Köln und im Rahmen eines Ateliers von PACT Zollverein. 2022 wurde sie mit "A performance is a long quiet river" für den Kölner Tanzpreis 2022 nominiert und zum FAVORITEN Festival in Dortmund eingeladen.

Lucie Ortmann arbeitet seit 2022 als Dramaturgin am tanzhaus nrw.

Drei Tänzer*innen bewegen sich stürmisch stehend vor einem lila bunten Hintergrund.

Céline Bellut

Plötzlich überquert ein Faultier die Straße
27.05. (Uraufführung) + 28.05.