Backstage mit Anne Teresa De Keersmaeker, Radouan Mriziga und Amandine Beyer
In unserer Reihe „Backstage mit…“ gibt es immer wieder Interviews mit Personen, die am tanzhaus nrw performen. Das folgende Interview wurde am 08.04.2024 von Sara Jansen in Brüssel aufgezeichnet. Aus dem Englischen übersetzt von Julian Rybarski. Mit freundlicher Genehmigung von Rosas.
Anne Teresa De Keersmaeker und Radouan Mriziga haben die Proben für Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione als Nachfolge für ihre vorherige Zusammenarbeit an der unter freiem Himmel im Garten von La Maison des Arts während des Kunstenfestivaldesarts (2020) aufgeführten Performance 3ird5@w9rk begonnen. Für das neue Stück für vier Tänzer*innen haben sie Antonio Vivaldis Vier Jahreszeiten unter der starken fachlichen Anleitung der Violinistin Amandine Beyer analysiert. Beyer hat gemeinsam mit ihrem Ensemble Gli Incogniti die hochgelobte Einspielung produziert, die für diese neue choreografische Arbeit als Inspiration dient.
Dass die Auswahl auf ein derart bekanntes Werk fiel, überrascht. Welche Gesten sind als Antwort gegenüber den Vier Jahreszeiten und den Konnotationen, die sie unverzüglich hervorrufen, zu setzen? Wie arbeitet man mit und überwindet die Bekanntheit dieser Musik? Was kann sie uns heute möglicherweise offenbaren? Und wie spricht Vivaldis Musik zu den beiden Choreograf*innen, wie verbindet sie beide miteinander?
Anne Teresa De Keersmaeker: Ich habe Nikolaus Harnoncourts Interpretation von Vivaldis Vier Jahreszeiten in den 1980er Jahren entdeckt. Es handelt sich um eines der symbolträchtigsten, wenn nicht sogar um das symbolträchtige Werk der westlichen klassischen Musik. Es leidet unter seiner Qualität in ähnlicher Weise, wie es auch dem Sonnenaufgang widerfährt: Es ist wunderschön, aber als Bild ist es der Ausbeutung anheimgegeben. Viele Musiker*innen empfinden es als populäre Musik im negativen Sinne des Begriffes, wenn ich auch das Gefühl habe, dass sich das gerade derzeit ändert. Amandine und ich haben gemeinsam zu Bach und Biber gearbeitet, aber sie war immer schon eine große Fürsprecherin dafür, Vivaldi zu nutzen.
Radouan Mriziga: Ich kenne mich mit Vivaldis Musik nur insofern aus, wie es alle anderen tun, freue mich aber sehr, in den Raum dieser Musik eingeladen worden zu sein, zumal in den Raum genau dieser Musik. Eben weil es sich um einen solchen „Hit“ handelt, fällt dem Publikum das Erkennen leicht, fällt es leicht, sich auf diesen Raum einzulassen und diesen Raum mit uns zu teilen. Es handelt sich um einen Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. Es ermöglicht vielen Menschen eine Verbindung und das Teilen von Melodien, Klängen, Erinnerungen und Gefühlen. Das ist heutzutage wichtig. Die Herausforderung für uns besteht darin, uns wirklich in die Musik zu begeben und sie zu analysieren.
Anne Teresa De Keersmaeker: Die Vorstellung einer musikalischen Komposition, die sich unmittelbar dem Thema der vier Jahreszeiten annimmt, hat für uns natürlich einen Reiz ausgeübt. Das Werk ist vollgestopft mit Naturdarstellung. Es spricht zu unserem Verhältnis zur Umwelt, und das betrifft den innersten Kern unserer Arbeit. Naturbeobachtung war stets ein Schlüssel zu unserer Entwicklung als Choreograf*innen. Wie schauen wir, als menschliche Wesen, auf die Natur? Das ist eines unserer Anliegen, und das stellt uns weiterhin schwierige Fragen. Haben wir überhaupt immer noch Jahreszeiten? Wie Shakespeare in seinem Sommernachtstraum schreibt: „Wir sehen der Jahreszeiten Wandel (…) Der Lenz, der Sommer, der zeitigende Herbst, der zorn’ge Winter, vergehen (…) Und die erstaunte Welt erkennt nicht mehr an ihrer Frucht und Art, wer jeder ist. Und die ganze Brut von Plagen kommt von unserem Streit, von unserem Zwiespalt her; wir sind davon die Stifter und Erzeuger.“
Radouan Mriziga: Wir sehen uns heute extremen Situationen gegenüber. Die biologische Vielfalt bricht zusammen. Zwar greift die Musik dies nicht buchstäblich auf, doch gibt es in der Einfachheit von Vivaldis Herangehensweise an die Jahreszeiten etwas, das es uns erlaubt, beginnend mit einfachen Elementen, über sie nachzudenken: Sonne, Hitze, Kälte, Tiere, Wasser, Wind, Pflanzen. Wir alle wissen und fühlen, was geschieht. „Es handelt sich um die Jahreszeiten, es handelt sich um vier davon, und so wir nur noch zwei haben, bedeutet es, wir haben ein Problem.“ Die Tatsache, dass Vivaldi im Mittelmeerraum lebte, stellt ebenfalls ein entscheidendes Element dar. Ich komme aus dem Mittelmeerraum, und ich liebe die Gegend und das, was dort geschaffen wurde. Ihre Vergangenheit ist voll von Schönheit, aber sie strotzt auch nur so von Katastrophen und Ungerechtigkeiten. Es ist wichtig, den Blick auf diese Musik auch über die Perspektive dieser Region zu lenken.
Welche Art von Aussage kann Tanz als Antwort auf die Krisen, mit denen wir heute konfrontiert sind, treffen? Wie kann man einen choreografischen Kontrapunkt zu dieser Musik setzen? Bedenkt man, wie vertraut und darstellend sie ist, muss das eine ziemliche Herausforderung sein.
Anne Teresa De Keersmaeker: Tanz ist nicht nur verkörperte Feier und Trost, sondern auch Reflexion. Wir können Fragen stellen, ohne eindeutige Aussagen zu treffen. Bedenkt man die Vielschichtigkeit und die extreme Ausprägung unserer Zeit, mag es sein, dass das Stellen von Fragen alles ist, wozu wir imstande sind. An welche Art von Vergangenheit erinnern wir uns? Welche Art von Zukunft stellen wir uns vor? Diese Musik wurde vor mehr als 300 Jahren geschrieben. Sie hat uns immer wieder überrascht. Sie stellt den Menschen als allein dar, ängstlich und machtlos im Angesicht der Natur. Ihr Gegenstand ist schlicht, und alle können es nachvollziehen. Gleichzeitig ist sie vieldimensional. Sie enthält viele Schichten: Technisch als auch auf Ebene der Geschichte und auch in der Weise, wie Natur in ihr dargestellt wird, wie sie Zeit und Raum organisiert.
Radouan Mriziga: Diese Schichten werden zu Werkzeugen, die Anne Teresa und ich teilen können, mit den Darsteller*innen, und später mit dem Publikum. Die Musik enthält ein Narrativ, das einen wichtigen emotionalen Aspekt beinhaltet. Es ist fast, als würde eine Geschichte erzählt.
Amandine Beyer: Die Tatsache, dass es so vielschichtig ist, beweist Vivaldis Freigebigkeit: Sowohl den Musiker*innen als auch dem Publikum bietet er vielfältige Eintrittspunkte an. Die Musik ist einladend, sie eröffnet Raum für Fragen. Die Vier Jahreszeiten verschwanden lange in der Vergessenheit und wurden erst in den 1930ern zum Erfolg. Als sie (wieder)entdeckt wurden, wurden sie schlagartig extrem beliebt. Die Musik hat nicht ein bisschen von ihrer Frische und ihrer Kraft eingebüßt. Sie birgt eine Fülle von Spezialeffekten. Vivaldis Vogeldarstellungen verfehlen immer noch ihre Wirkung nicht, auch wenn wir inzwischen nur noch selten Vögel hören. In der gemeinsamen Analyse wurde uns dann bewusst, wie viele Anteile der Vier Jahreszeiten in Molltonarten geschrieben wurde. Das erschafft mehr Intensität und Spannung, als wenn man in Dur schreibt: Fröhlich und sonnig.
Anne Teresa De Keersmaeker: Die Musik ist ganz und gar nicht so, wie ich sie mir vorgestellt habe. Sie ist vielmehr jubilierend, aber es gibt in ihr eine lebendige Kraft. Sie ruft eine seltsame, ungewöhnliche Farbpalette wach.
Radouan Mriziga: Wenn man diese Musik hört, fühlt man auf eine bestimmte Art und Weise, weil sie so vertraut ist. Sobald man anfängt, sie zu analysieren, entdeckt man die Geschichten dahinter, und man entwickelt eine andere Verbindung dazu. Beginnt man nun die Partitur zu studieren, wenn man bemerkt, dass es eher Moll als Dur ist, steigt man wiederum in eine andere Beziehung zur Musik ein. Und dann bemerkt man, dass jedes Konzert in drei Sätze unterteilt ist… Wir haben immer mehr und immer weitere Ebenen erschlossen. Konzentriert man sich auf diese Vielschichtigkeit, so können sich Möglichkeiten ergeben, Vivaldis Musik von den Klischees zu befreien und sie aus einer anderen Perspektive zu studieren.
Anne Teresa De Keersmaeker: Es ist auch faszinierend, dass Vivaldi der Natur eigentlich gar nicht so nah war. Er lebte in Venedig. Er war ein Stadtmensch. Vivaldi schrieb das Werk in Mantua, während eines Aufenthaltes außerhalb der Stadt. Das lädt uns zu einer Betrachtung unseres eigenen Verhältnisses zur Natur ein. Sind wir ein Teil von ihr, oder betrachten wir Natur als etwas außerhalb unserer selbst? Falls Vivaldi tatsächlich die Natur aus einer gewissen Distanz betrachtete, ist die Art und Weise, wie er sie in seiner Komposition einfängt, faszinierend. Welche Aussage trifft er über die vier Jahreszeiten? Die Musik enthält viele Darstellungen des Windes. Es gibt so viele Stürme in den Vier Jahreszeiten. Er zeichnet kein hübsches Bild, wie es zur Zeit der Romantik üblich war, sondern bildet eine gewalttätige Natur ab. Die Musik ist, buchstäblich, durchzogen von turbulenter Energie. Wasser, Wind, Feuer: Alle Elemente sind enthalten. Die Musik verkörpert die Natur, als fühlte sich Vivaldi doch als Teil von ihr. Wie ihr wisst, bin ich besessen von Kreisen, Spiralen, Ellipsen und Verwirbelungen. Besonders in Sommer und Winter gibt es Einladungen, sich zu drehen. In der Natur dreht sich alles: Der Wind, die Ozeane, die Sterne, das kosmische System… Es ist zyklisch. Es öffnet und schließt sich. Die Vier Jahreszeiten verkörpern das tatsächlich.
Amandine Beyer: Es ist sehr kosmisch. Die Musik verkörpert diese Art des Öffnens und Schließens auch in der Form, wie Vivaldi die Geige und ihre Fähigkeit zur Nachahmung einsetzt. Vivaldi war sich der ihn umgebenden Natur bewusst. Er muss von ihrer Schönheit, Kraft und Gewalt überrascht gewesen sein. Wir nehmen an, dass er selbst die Sologeige gespielt hat. Die Technik, der Ausdruck, der Einsatz von Harmonik, das Schreiben selbst: Alles im Dienst der Bilder und des erzeugten Narrativs. Zu Vivaldis Zeiten galt die Geige als Königin der Instrumente, weil sie so kraftvoll ist, fähig, alle anderen Instrumente zu imitieren: Die Trompete, die Orgel, aber auch die Stimme und die Elemente, die Natur, die Vögel, Geräusche. Hier wird die Geige geöffnet, um wie ein Synthesizer eingesetzt zu werden. Vivaldi hat diese Idee der Geige maßgeblich befördert. Er war ein sehr fähiger Geiger, aber seine Naturdarstellung war ebenso hochdramatisch. Er schrieb zu der Zeit Opern, und er liebte das Theater. Er beobachtet die Natur und überführt sie in die Theatralität. Er hatte offenbar eine gute Zeit, als er Die Vier Jahreszeiten schrieb.
Radouan, Anne Teresa beginnt ein Projekt damit, die Musik sehr detailliert zu analysieren. Ist musikalische Analyse auch ein Teil deiner choreografischen Herangehensweise?
Radouan Mriziga: Meistens ist Musik nicht mein Ausgangspunkt. Tatsächlich mache ich das Gegenteil. Ich liebe Musik, und ich arbeite mit Musik, aber ab einem bestimmten Punkt nehme ich sie heraus, und oftmals bleibt am Ende nur eine Andeutung von ihr. Darum interessiert mich die Arbeit mit Musik, wie Anne Teresa sie vornimmt, und Amandine dabei zuzuhören, wie Vivaldis Komposition analysiert wird. Ich höre nur Rhythmen, und ich konzentriere mich auf das, was in der Musik verborgen liegt: Versteckte Pulse, versteckte Rhythmen. Dies ist mein Zugang zur Musik, über Rhythmus. Für mich stellt es durchaus keine Notwendigkeit dar, dass das gesamte Musikstück während der Aufführung zu hören sein muss. Vielleicht muss auch gar nichts davon hörbar sein. So verhalte ich mich gegenüber der Musik eben auch.
Anne Teresa De Keersmaeker: Wir haben uns auf den Weg gemacht, diese Arbeit gemeinsam zu erschaffen und alle Aspekte zusammen zu entwickeln: Die Choreografie, die Musik, die Kostüme, Licht, bis hin zum Bühnenbild. Allerdings wurde uns, als wir mit den Proben anfingen, klar, dass es für uns ebenso unentbehrlich sein würde, einen jeweils eigenen Ort zu erschaffen, um unseren je eigenen Weg zu gehen. Also verfolgen wir die Prozesse der anderen, und wir werden sehen, ob sich, nach einer Weile, unsere parallelen Linien treffen, oder ob sie parallel bleiben. Das werden wir zu einem späteren Zeitpunkt feststellen. Eine gegenseitige Kontamination wird ziemlich sicher einsetzen, auch wenn wir jetzt noch nicht wissen, welche Form sie letztlich annehmen wird. Dazu können wir noch nichts sagen.
Radouan Mriziga: Wir haben über die Natur und das Kosmische gesprochen. Ich möchte gerne die Idee ausloten, dass Vivaldi einfach etwas über die Natur kanalisiert hat. Für mich ist er Teil der Natur. Im Gegenzug kanalisieren wir einfach etwas durch seine Musik. Es muss nicht unsere Vision davon werden, wie die Sachen zu sein haben. In unseren Gesprächen dreht es sich immer wieder um unser Verhältnis zum Leben, zur Natur, zum Kosmos. Es geht auch um das Spirituelle.
Anne Teresa De Keersmaeker: Wir teilen eine Leidenschaft für Geometrie und die spirituelle Dimension der Natur. Ich denke, dass Natur und Spiritualität ein und dasselbe sind. Es gibt eine ganze Reihe von Annäherungen an die Natur, von einer wirklich wissenschaftlichen Beobachtung – rational, analytisch – bis hin zu einer ganzheitlichen, spirituellen Erfahrung, die unsere Körper, unseren Geist und unsere Seelen einbezieht.
Mich interessiert Religion als spirituelle, vereinende kosmische Kraft, und in der Vorstellung, dass wir zu etwas gehören, dass jenseits unserer selbst liegt. In diesen Zeiten, die so extrem sind, gibt es einen echten Bedarf danach. Ich setze ebenfalls auf Schönheit, auf Harmonie, im Sinne dessen, was klappt, was funktioniert, nicht als ästhetische oder moralische Werte. Wie sollen wir alle auf diesem Planeten überleben, alle acht Milliarden von uns? Wie werden wir ihn teilen? Wie werden wir Luft und Wasser teilen? Wie wird die Natur überleben? Wie werden wir uns um die Tiere, die Bäume, die natürlichen Ressourcen kümmern? Wann werden wir uns aus unserer überlegenen Haltung herausbewegen und damit aufhören, uns wie die Herren der Erde aufzuführen?
Radouan Mriziga: Ich stimme zu, dass wir uns zu diesem Zeitpunkt nicht nur intellektuell mit der Gegenwart auseinandersetzen dürfen. Wir brauchen das Intellektuelle, das Körperliche und das Spirituelle. Ich glaube, dass diese besondere Erfahrung – die Analyse, das Machen, und die Erfahrung – heute sehr wichtig ist.