Backstage mit Anne Teresa De Keersmaeker Meskerem Mees und Jean-Marie Aerts
In unserer Reihe „Backstage mit…“ gibt es immer wieder Interviews mit Personen, die am tanzhaus nrw performen. Das folgende Interview wurde am 03.01.2023 von Dramaturg Wannes Gyselink für Concertgebouw Brügge aufgezeichnet. Aus dem Niederländischen übersetzt von Julian Rybarski. Mit freundlicher Genehmigung von Rosas.
When you’re lost, it’s a good idea to retrace your footsteps.
(Wenn du dich verirrt hast, solltest du deine Schritte zurückverfolgen.)
Gyselinck: Anne Teresa De Keersmaeker kehrt für Creation 2023 zur hauptsächlichen Form menschlicher Bewegung, dem Laufen, zurück, und ebenso zu den Ursprüngen westlicher Popmusik: zum Blues. Musikalisch flankieren sie dabei Singer/Songwriterin Meskerem Mees (1999) und Produzentin/Gitarristin Jean-Marie Aerts (1951).
Anne Teresa De Keersmaeker: In den vergangenen Jahren habe ich sehr viel mit klassischer Musik gearbeitet, mit Bach natürlich, und mit Musik vom vierzehnten Jahrhundert bis hin zu Arbeiten von zeitgenössischen Komponist*innen wie Grisey und Reich. Musik war mir immer die erste Partnerin, und auch eine Lehrerin. Dennoch bin ich zu bestimmten Zeiten auch Beziehungen zu Popmusik eingegangen. Für die meisten Leute ist Popmusik noch immer im Wesentlichen Tanzmusik. Popmusik enthält darüber hinaus viele Bestandteile, die mich interessieren: Da ist der Puls, der dich tanzen lässt, eine Melodie und das Lyrische: Es gibt Text, jemand spricht zu dir.
Letztens bin ich beim Sortieren meiner LP-Sammlung auf ein schwarzes Vinyl-Album gestoßen, und ein Notizzettel, den ich noch nie zuvor gelesen hatte, fiel aus der Hülle, unterschrieben von Jean-Marie Aerts. Mit der Frage: Möchtest du dir das hier mal anhören? Interessiert dich diese Musik? Das war 1996. Ich begann meine Karriere im Jahr 1982, und damals hörten wir Musik von den Talking Heads und TC Matic. Das war die Musik, zu der wir nach der Arbeit in Brüssel tanzten, wenn wir ausgingen, was auch Tanz war, aber eben doch anders. Auf dem Zettel stand nur eine Festnetz- und eine Faxnummer. Also hab‘ ich angerufen, und Jean-Marie nahm ab.
Jean-Marie Aerts: Das war ein ganz schöner Schock, mit dem Anruf hatte ich nicht gerechnet.
De Keersmaeker: Wir fingen an, uns über den Blues zu unterhalten, über Robert Johnson, John Lee Hooker, Muddy Waters. Mir wurde schnell klar, dass die Musik, die ich suchte, eine Stimme brauchte: Popmusik ist storytelling, ich wollte eine Geschichte erzählen. Aber es musste eine Frauenstimme sein. Ich hatte YouTube-Videos von Meskerem Mees gesehen und dachte: Ja, das ist echt, das ist authentisch. Also fragte ich Jean-Marie an einem bestimmten Punkt, ob er Meskerem Mees kannte. Er sagte, ja, du hast Recht, mit ihr würde ich sehr gerne arbeiten.
Aerts: Meskerem ist eine Ausnahmeerscheinung. Es gibt im Moment eine ganze Menge schöner neuer weiblicher Stimmen, aber Meskerem hat etwas Spezielles.
Meskerem Mees: Danke sehr.
Aerts: Ich erinnere mich an einen Clip, der zeigte, wie Pete Doherty aus dem Backstage Meskerem beim Singen zusah. Man konnte sehen, dass er ordentlich beeindruckt war.
Mees: Außerdem hatte er auch ordentlich was zu sich genommen. (lacht)
De Keersmaeker: Ziemlich schnell danach haben wir drei in Jean-Maries Studio mit der Arbeit angefangen, ausgehend vom Blues, aber wir haben auch um Beats und BPMs (beats per minute) herum gearbeitet. Wir entwickelten eine Struktur, von der aus wir die verschiedenen Tempi verteilten. Recht schnell nahmen wir uns Shakespeare für die Texte vor. Keine offensichtliche Kombination, aber sie hat funktioniert. (An Meskerem gerichtet) Was dachtest du eigentlich, als ich dich angerufen habe?
Mees: Ich habe mich total gefreut. Besonders, als du sagtest, dass es um den Blues gehen würde. Ich bin mit der Musik meines Vaters aufgewachsen: Lead Belly, Mississippi John Hurt, Robert Johnson. Mit deiner Arbeit war ich nicht so vertraut, allerdings war ich davon sehr schnell beeindruckt.
De Keersmaeker: Eigentlich sollten Meskerem und Jean-Marie eine Art Soundtrack erstellen, der dann aufgenommen werden sollte.
Mees: Allerdings wollte ich auch mittanzen.
De Keersmaeker: Warum eigentlich?
Mees: Mit meinem eigenen Projekt konnte ich jetzt zwei Jahre lang touren, immer mit demselben Material. Das war großartig, ich bin sehr dankbar. Aber um neue Musik zu erschaffen, muss man Abstand von dem Material bekommen können, dass es bereits gibt, und das funktioniert nicht, wenn du weiter tourst. Ich habe eine Herausforderung vermisst – und ich weiß, dass das nach einem Luxusproblem klingt. Aber das hier – singen und tanzen in einer Rosas-Performance – ist genau das, was ich jetzt brauche: Etwas, das ich noch nie zuvor gemacht habe, und zu dem ich wohl auch noch gar nicht in der Lage bin, aber ich will trotzdem alles geben.
De Keersmaeker: Auf der Bühne wird Meskerem von Carlos Garbin, einem ehemaligen Rosas-Tänzer und Bluesgitarrist, begleitet. Wir spielen den minimalistischen Blues – nur Gitarre und Stimme – gegen dance-orientierte Backing Tracks aus. Diese Spannung ist, glaube ich, typisch für die Geschichte der Popmusik, die auch die Geschichte der aufgenommenen Musik darstellt. Es gibt immer diese Sehnsucht nach einer Art von Anwesenheit, von Präsenz, danach, wie die Musik klingt, wenn man sie live erlebt.
Gyselinck: Wir haben gerade eben unseren ersten Tag mit allen Tänzer*innen hinter uns. Wie hat sich das angefühlt, Meskerem?
Mees: Jetzt gerade vor allem schmerzhaft (lacht); mir tut es buchstäblich überall weh. Aber ich liebe es: Die Disziplin, das Aufwärmen, dann stundenlanges Tanzen, ohne etwas anderes machen zu müssen. Ich fühle jetzt an allem: Ich verfüge nicht über den trainierten Körper einer Tänzerin, aber darauf will ich in den kommenden Monaten hinarbeiten: dass ich zwei Stunden lang tanzen kann, ohne mich mit schmerzenden Armen oder Beinen auseinandersetzen zu müssen. Obwohl ich auch fühle: Die Verbindung zwischen Tanz und Musik ist sehr intim; es sind zwei unterschiedliche Arten, mit sehr ähnlichen Impulsen umzugehen. Der Unterschied liegt darin, dass dich der Tanz völlig auf den eigenen Körper zurückwirft, oder, dass er dich auf jeden Fall aus dem eigenen Kopf herausholt. Das ist wunderbar.
Gyselinck: Jean-Marie, wie sind dir als Junge aus Zeebrugge Robert Johnson und der Blues begegnet?
Aerts: In Zeebrugge war England damals ziemlich nahe. Wir mussten nur auf die Fähre, und ein paar Stunden später waren wir schon im Schallplattengeschäft in London und haben uns durchs Vinyl gewühlt. Wir sind ständig hin und her gereist und brachten Alben von The Cream, von Eric Clapton, und dem Blues von John Mayall und Peter Green zurück. Die haben elektrischen Blues gespielt, und den Blues überhaupt wieder populär gemacht – also „Pop“. Dann fängst du an, danach zu graben, wo sie das alles herholen, und dann kommst du automatisch bei den amerikanischen Blueskünstler*innen an: Robert Johnson, der tatsächlich einer der letzten aus einer Generation war, beherrschte eine Menge unterschiedlicher Stile, und er war auch einer der allerersten, der Aufnahmen als Einnahmequelle hatte. Robert Johnson wurde eine Art musikalischer Ahnherr für mich. In meinem Studio arbeite ich zwischen zwei Postern: einem von Billie Holiday und einem anderen von Robert Johnson. Meine beiden Schutzengel. So dass ich keinen Blödsinn in meiner Musik mache. Die halten mich auf dem rechten Pfad, sie sorgen dafür, dass das, was ich mache, authentisch bleibt, dass es echt ist, und dass es auch Spaß macht. Aber Robert Johnson hat ein ganz anderes Leben geführt als ich: viel gefährlicher, und auch kürzer. Er war ein Frauenheld; das sieht man auch auf den Fotos, mit seinem Anzug und seiner Gitarre. Er wurde von einem eifersüchtigen Ehemann vergiftet.
Gyselinck: Anne Teresa, was macht den Blues für dich zu einem guten Ausgangspunkt für eine Tanzvorstellung?
De Keersmaeker: Ich habe 1982 angefangen mit dem Minimalismus, mit der Musik von Steve Reich, den minimalistischen Beats von Rosas danst Rosas. Entwicklungen drehen sich für mich häufig im Kreis: „Less is more“, denke ich immer öfter, zurück zur Quelle, zum „real thing“. Die ganze Verpackung und den Schnickschnack runterholen, mit größtmöglicher Betonung auf den Fähigkeiten des menschlichen Körpers (stampft mit den Füßen und pfeift), darauf, was die Stimme kann. Darin liegt auch meine Faszination für den Blues: Die alten Blueskünstler*innen haben unverstärkt gespielt, sie haben den Rhythmus auf Holzbühnen herausgestampft, und sie haben laut gespielt und gesungen – sie haben gehowled –, um lauter zu sein als die tanzenden Menschen.
Aerts: Und sie benutzten claves, um einfache Beats zu erzeugen. Sklav*innen mussten damals Balken mit einer Art Holzzylinder, claves, zusammenhämmern. Sie nahmen sie mit nach Hause und fingen an, damit Rhythmen zu erfinden, die so auch in der karibischen Musik wichtig sind. In erster Linie ist der Blues die Musik der Schwarzen Sklav*innen, die Freiheit in ihrer eigenen Musik fanden.
De Keersmaeker: Im Blues geht es um Traurigkeit und Freude, meine Traurigkeit, meine Freude, aber auch um unsere Traurigkeit, unsere Freude. Sowohl individuell als auch gemeinsam; diese Spannung ist für mich entscheidend. Blues ist auch Alchemie: Wir singen von unserer Traurigkeit, aber dadurch, dass wir davon mit anderen singen, verwandeln wir sie in eine Stärke, etwas Fröhliches. Das ist der Ursprung des Blues, von Pop, vielleicht von jeglicher Kunst. Wenn du es nicht sagen kannst, sing es. Wenn du es nicht singen kannst, tanz es. Aber ich will nicht nostalgisch sein: Die Geschichte des Pop ist auch die Geschichte der Technologie, der Musikproduktion, der Aufnahme, des „adding fire“: von Verstärkung, von der Verfremdung des Klanges, vom Einfangen des Klanges.
Gyselinck: Du gehst bewusst in dieses Spannungsfeld zwischen musikalischer Einfachheit und Technologie.
De Keersmaeker: Ich lehne die Technik nicht ab. Es ist kein Zufall, dass ich hier zwischen Jean-Marie und Meskerem sitze, zwischen einem Meisterproduzenten und jemandem mit einer Stimme, die bereits unverstärkt sehr durchdringend ist. Ich will die beiden gerade gegeneinander ausspielen, um die Frage zu stellen: Was ist unsere Beziehung zur Technik, zur Wissenschaft, was sind unsere Mittel, um dieses Fest, um diese Reflexion und dieses tröstende Lied Wirklichkeit werden zu lassen? Insbesondere, wenn wir die ökologische Krise mit einbeziehen, die ebenfalls von unserer Technologie ausgelöst wird.
Gyselinck: Du arbeitest mit einer Gruppe von zwölf Tänzer*innen, mit Meskerem, die ebenfalls jung ist.
De Keersmaeker: Alles ist Polarität. Ich arbeite häufig mit älteren Tänzer*innen, und dann wieder mit jungen Akteur*innen. Ich mag auch die Mischung aus alt und jung – denk‘ nur an Meskerem und Jean-Marie. Ebenso mag ich eine größere Gruppe, in der das Zusammenspiel zwischen Individuum und Kollektiv automatisch geschieht. Solchen Beziehungen bin ich sehr verbunden: Es ist wunderbar, allein zu tanzen, und genauso wunderbar im Duett. Sobald du im Trio tanzt, gibt es Rivalitäten, Territorien, wechselnde Bündnisse, und Kontrapunkte. Aber die Partie is with everybody. Dann ist der Kreis rund – maybe a broken circle, ein Halbkreis, der das Publikum miteinschließt. Ob es sich um ein Streichquartett handelt, ein Sinfonieorchester oder um eine Gruppe Tänzer*innen: Ein Halbkreis spricht immer eine Einladung an das Publikum aus, diesen Kreis rund zu machen, sich mitzubewegen. Letzten Endes machen wir doch darum Kunst? Um gemeinsam zu trauern und um gemeinsam Freude zu feiern. Schönheit und Trost. Kunst, insbesondere Musik und Tanz, haben healing power. Das ist schon bei Apollo so: der Gott der Musik und auch der Medizin.
Ich weiß es, und Lucebert hat es schon gesagt: Heutzutage trägt die Schönheit ein verbranntes Gesicht, alles von Wert ist schutzlos. Ich traue mich noch immer, das zu tun: „to bet on beauty“. Bei Bach liegt die Schönheit in der Harmonie. Das kommt von einem griechischen Wort, das tatsächlich „das, was zusammenarbeitet“ bedeutet – wie der Mechanismus in einer Türklinke, die Zügel eines Pferdes, dein Schultergelenk. An sich geht es da gar nicht um irgendwelche ästhetischen Merkmale. Ich weiß, dass Schönheit für altmodisch gehalten wird, aber wir brauchen sie mehr denn je: Unsere Beziehung zur Natur ist gestört, wir sehen uns außerhalb der Natur, dabei sind wir mittendrin, wir sind ein Teil von ihr, gemeinsam mit Pflanzen, Tieren, Grundelementen, Luft und Wasser. Wir haben diese Harmonie verloren. Vielleicht ist das der Grund, warum es jetzt gilt, mit jungen Tänzer*innen zu arbeiten, mit Menschen, die jetzt jung sind, an diesem Wendepunkt. Für mich bedeutet Tanz auch „Zusammenarbeit“ zwischen Generationen. Das bringt so viel ein. Das war früher auch für die Landwirt*innen so: Wir brauchen die Leidenschaft und Kraft jüngerer Generationen und deren Sehnsucht nach Abenteuer. Aber es gibt die*der junge*n Bäuer*in, die*der sagt, dass es noch nicht Zeit ist für die Ernte, es ist noch zu früh. Dieses vor und zurück zwischen den Generationen, diesen Wissensaustausch brauchen wir. L’union fait la force; konzentrieren wir uns auf das, was wir miteinander teilen, auf das, was wir einander geben und was wir einander liefern können.