May I hug you?

Als der Australier Juan Mann 2004 die Free Hugs Campaign startete und mit dieser Aktion weltweit viral ging, konnte er nicht ahnen, dass seine großzügige, freundliche Einladung 15 Jahre später an die Grenzen körperlicher Unversehrtheit und Autonomie stoßen würde. In der COVID-19-Pandemie entwickelte die Kanadierin Carolyn Ellis die sogenannten Umarmungs-Handschuhe – ein riesiges Plastikgebilde, mithilfe dessen sie ihrer Mutter eine Umarmung schenken konnte, ohne sie zu gefährden. Eine Umarmung braucht Einvernehmlichkeit und Vertrauen, bedeutet Glück, Zuneigung und Wohlgefühl, schenkt Nähe und Empathie und trägt ab jetzt (leider) ein gewisses Risiko mit sich. Die Pandemie hat aber auch in einer produktiven Weise tradierte körperliche Rituale in Frage gestellt, ungefragten Körperkontakt, der als übergriffig, unsicher oder sogar gefährlich empfunden werden kann. 

Nach zwei Jahren Pandemiebewältigung befinden wir uns in einer „neuen Normalität“, in der wir den Bezug zum eigenen Körper suchen und herausfinden müssen, wie wir Menschen begegnen und Beziehungen neu und anders bilden können. Krisen und Kriege begleiten unseren Alltag und lassen paradoxe und beängstigende Zukunftsbilder entstehen. Diese Gegenwart ist Teil der kollektiven Verantwortung, die wir permanent in unseren Handlungen tragen: in kleinsten Details unseres Alltags, in Empfindungen und Erfahrungen, die in unserem Realitätsbild entstehen. Durch Aktion und Reaktion gestalten wir unsere Identität, beeinflussen unmittelbar unsere Umgebung und bilden eine Gemeinschaft mit anderen und unserem Lebensraum. „Mir geht es um die Kraft, die entsteht, wenn wir zusammenstehen. Wie viel stärker wir sind, wenn wir Teil einer Gemeinschaft sind.“ – sagt Sami Choreografin Elle Sofe Sara zu ihrem Stück Vástádus eana/The answer is land und schildert dadurch schmerzvoll und glasklar eine transformierende Praxis und Vision.

 Die Spielzeit 2022/2023 bedeutet für das tanzhaus nrw und mich eine Phase des (Neu‑)Begegnens, des Kennenlernens, des Aufbauens von künstlerischen und stadtgesellschaftlichen Beziehungen im Kontext der sozio-politischen und ökonomischen Herausforderungen. Mit der Programmreihe May I hug you? fragen wir uns und Sie, liebes Publikum, wie vertrauensvolle Beziehungen zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Umwelt, zwischen Institution und Stadt neu wachsen können und welche Rolle der Körper dabei spielen kann und muss.

Drei Bereiche – intime Körperlichkeit, Körperlichkeit der Gemeinschaft und schließlich die expansive Körperlichkeit – markieren die Breite unseres Fokus, innerhalb dessen das tanzhaus nrw die neue Normalität gestalten und formen möchte. Wir denken über die Fragilität des Körpers nach, erforschen die Wandlungsfähigkeit menschlicher Gemeinschaften und entwerfen Zukunftsbilder in Relation von Körper und Ökosystemen. Die drei Schwerpunkte bilden keine thematischen Reihen mit Anfang und Ende, sondern sie strecken sich während der gesamten Spielzeit aus und sind als künstlerische Umarmungen zu verstehen. Wir wollen gesellschaftliche Diskurse näherbringen, Distanz aufbrechen, komplexe Themen persönlicher machen – all dies und vieles mehr als eine Institution mit vielen und für viele.

Und wenn wir uns begegnen, erlaubst du mir, dich zu umarmen?

Ingrida Gerbutavičiūtė
Intendantin

Ingrida Gerbutavičiūtė